Montag, 22. Dezember 2014

Angehört 2014: Songs

"Some say the end is near / Some say we'll see armageddon soon". Maynard James Keenan bezog sich wahrscheinlich nicht auf Weihnachten und Silvester, als er 1996 jene unvergesslichen Verse zu Papier brachte. Doch egal wie man es dreht und wendet: Das Jahr geht zu Ende. Mit besorgniserregenden Gedankensprüngen in Einleitungen und Best-Of-Listen. Die besten Tierfilme, die besten Nervenzusammenbrüche im Reality-TV, die besten Nobelpreisträger. Alles, was sich irgendwie in eine Reihenfolge bringen lässt, wird sortiert und mit Beschreibungstexten versehen.

2014 habe ich so viel Musik gehört wie zuletzt in der Jugend. Dies hängt natürlich vor allem mit meiner Tätigkeit als Schreiberling für plattentests.de zusammen, aber auch im Allgemeinen ist mein Interesse am Entdecken neuer Klänge so groß wie noch nie. Gehört habe ich dieses Jahr ungefähr 250 Alben, wobei selbstverständlich jede Menge Murks dabei war. Und obwohl ich versuche, möglichst breit gefächert Musik zu erkunden, habe ich etliche der nun in den Listen hoch auftauchenden Platten noch nicht hören können. Macht aber nix. Unvollständigkeit ist obligatorisch.

Bevor ich meine persönlichen Alben des Jahres am 27.12. enthüllen werde, wird es wie schon letztes Jahr in den nächsten Tagen einige andere rückblickende Artikel zu lesen geben. Den Anfang machen heute 10 Lieder, die mich durchs Jahr begleitet haben. Viel Spaß!


Eno / Hyde - Witness
VIMEO

Der gerne mit Attributen wie "Ambient-Pionier" oder "Klanggenie" versehene Brian Eno ist ein umtriebiger Geselle. In schöner Regelmäßigkeit wirft er neue Alben auf den Markt, wobei deren Qualität mit dem Adjektiv "schwankend" noch wohlwollend beschrieben ist. Dass ausgerechnet der Underworld-Sänger Karl Hyde Eno aus der kreativen Sackgasse befördern würde, war sicher nicht abzusehen. Eno und Hyde veröffentlichten dieses Jahr gleich zwei Alben: Das poppige "Someday world" und das krautrockende "High life". "Witness" stammt vom erstgenannten Longplayer und ist ein Paradebeispiel für einen simplen, aber wunderschönen Popsong. Das eigentlich nur um eine einzige Harmonie kreisende Stück schlägt einige Haken, ohne dabei das große Ziel aus den Augen zu verlieren.

Hiss Tracts - Test recording at trembling city
YOUTUBE

"Test recording at trembling city" ist kein Song im eigentlichen Sinne, sondern eine Klangcollage, wobei solche Begriffe eher unzureichend wiedergeben können, was diese sieben Minuten Geräusch mit Menschen anstellen, wenn sie sich darauf einlassen. Das Heulen. Das Grauen. Selbstexperimente haben gezeigt, dass das Stück vor allem bei Dunkelheit und in der Ferne von Menschen besonders wirkmächtig wird. Gewiss nicht Jedermanns Sache, für mich aber eine der tollsten Hörerfahrungen der letzten zwölf Monate.

Grouper - Holding
Leise Töne sind das Spezialgebiet von Liz Harris, die unter dem Pseudonym Grouper Platten veröffentlicht. Nur ein behutsam gestreicheltes Klavier und ein Flüstern sind nötig, um Gänsehaut hervorzurufen. Darauf einlassen muss man sich natürlich, Nebentätigkeiten sind beim Konsum von Grouper-Alben ebenso unzulässig wie undenkbar. Der Tag, an dem solche Musik im Radio laufen kann, wird der Tag der Erlösung sein.

Melanie de Biasio - With all my love
Erinnerungen an Sangesgrößen vergangener Tage werden wach, wenn die Belgierin Melanie de Biasio ihre Stimme erhebt. Die unnahbare Kühle einer Nancy Sinatra schwingt ebenso mit wie die abgründige Erotik einer Nina Simone. De Biasio wird gerne ins Jazz-Fach gesteckt, obwohl ihr derlei Schubladen um einiges zu eng sind. Zwischen Pop, Chanson, Jazz und purem Minimalismus lebt ihre Musik. Musik, die Stille einfordert. Betörend.

David Bowie - Sue (or in a season of crime)
In "Sue (or in a season of crime)" vereinen sich mehrere Inkarnationen des ewigen Selbstveränderers David Bowie. Der Crooner. Der Experimentierer. Der Provokateur. Der alte Mann. Ja, Bowie ist alt geworden. Zum Glück, denn bekannterweise hätte es vor zehn Jahren auch schon vorbei sein können. Doch der Engländer blieb am Leben, trotz Herzinfarkt. Sein letztjähriges Comeback-Album "The next day" gehört noch immer zu den schönsten Überraschungen der jüngeren Popgeschichte. Mit "Sue (or in a season of crime)" setzt Bowie nun seinen späten Höhenflug fort. Mit kräftiger, voller Stimme über brütendem Jazzgefrickel. Düster ist das, ein bisschen bösartig vielleicht sogar. Die Welt braucht das.

Clipping - Get up
Beep beep beep beep. Während andere Snaredrums und Crashbecken sampeln, benutzen die Avantgarde-HipHopper von Clipping lieber einen handelsüblichen Radiowecker. MC Daveed Diggs spuckt wie besessen nackenbrecherische Silbenketten ins Mikrofon, wobei nur der immer wieder dazwischenschlingernde Refrain ihm Zeit zum Verschnaufen gibt. Der Mut und die Aggressivität wie Clipping hier eine Idee konsequent zu Ende denken, verdient maximale Anerkennung.

Earth - From the zodiacal light
Mit Wörtern wie "monolithisch" sollte sparsam umgegangen werden. Die Pathosfalle, Sie wissen schon. Aber manchmal gibt es kein Entrinnen. Manchmal muss auch in Sachen Wortwahl maximal auf die Kacke gehauen werden. Wenn etwa Earth, Musik gewordenes Beschwörungsritual, Wahrnehmung verflüssigen. Wenn Rabia Shaheen Qazi ihre Stimme erhebt und den arschfahlen Mond anklagt. Wenn Dylan Carlson seiner Gitarre Feedbacks entlockt, die nichts außer Freude zurücklassen. Wenn sich "From the zodiacal light" Minute um Minute voranschiebt, um sich selbst dreht, entschwebt. Dann ist Pathos erlaubt. Dann darf man auch "monolithisch" sagen. Monolithisch!

Wanda - Bologna

Erst wollte ich mich weigern. Es nicht gut finden. Weil doch alle es mögen, und ich mich gerne in kindlichem Nonkonformismus suhle. Aber ich habe es dann doch angehört. Einmal. Zweimal. Und dann hat es "klick" gemacht. Seither kriege ich "Bologna" nicht mehr aus dem Kopf. Ein Lied, das zwar simpel, aber ungemein effektiv ist. Zum Schwelgen, Mitgrölen, Tanzen. Wenn schon Befindlichkeitsrock, dann so. Mit Augenzwinkern und Wiener Schmäh.

La Roux - Let me down gently

Elly Jackson alias La Roux war tief in der Versenkung verschwunden. Stolze fünf Jahre vergingen zwischen dem umjubelten Debüt und dem Comeback-Album "Trouble in paradise". Mit "Let me down gently" meldete sich der Rotschopf im Sommer zurück - und wie. Noch immer sind die Achtziger das Jahrzehnt, das den klanglichen Rahmen vorgibt, im Gegensatz zu früher geht Jackson aber weitaus filigraner an die Mission "Retro-Pop mit Charme" heran. "Let me down gently" vollzieht mühelos die Metamorphose vom sehnsüchtigen Schmachtfetzen hin zum waschechten Disco-Schwofer. Geschmackvoll und ganz unangestrengt.

Antilopen Gang - Beate Zschäpe hört U2
Wenn ein Song dafür sorgt, dass Ken Jebsen Anzeige erstattet, muss dieser Song etwas richtig gemacht haben. Mit "Beate Zschäpe hört U2" gelang in diesem Jahr der zum Trio geschrumpften Antilopen Gang ein Überraschungserfolg. Das richtige Lied zur rechten Zeit, sowohl als auch. In Tagen offen zur Schau gestellten Ressentiments und Stumpfsinns ist es eine Wohltat, dass es noch Künstler gibt, die ganz ironiefrei und ungeniert die Dinge beim Namen nennen. Natürlich ist "Beate Zschäpe hört U2" provokant und polemisch. Alles andere wäre angesichts der gewählten Form auch absurd. Recht haben sie trotzdem. Danke, Jungs.

Dienstag, 16. Dezember 2014

kEwL! - Erinnerungen an VIVA


Es ist schon einige Sonnenumrundungen her, dass es noch Musikfernsehen gab. Die Älteren unter euch werden sich sicher erinnern. Das altehrwürdige MTV flimmerte ja schon seit Anfang der Achtziger über die Mattscheiben, und war auch noch im darauf folgenden Jahrzehnt ein unverzichtbarer Bestandteil jeglicher musikalischen Sozialisation. Irgendwann während des Höhepunkts der ebenso kunterbunten wie geschmacksbefreiten Spaßwelle zu Beginn des letzten Jahrzehnts des zweiten Milleniums muss es sich zugetragen haben, dass einige findige Damen und Herren die Idee forcierten, einen deutschsprachigen Musik- und Jugendsender zu starten. Und so kam es, dass am 1.12.1993 die sogenannte Videoverwertungsanstalt auf Sendung ging.

Besser bekannt ist diese Anstalt natürlich als VIVA. Ich würde behaupten, dass so ziemlich jeder, der irgendwann zwischen 1980 und 1990 geboren wurde, irgendwelche Erinnerungen mit dem in Köln beheimateten Sender verbindet. Das, was VIVA in den ersten Jahren seiner Existenz so einzigartig machte, waren zwei Dinge: Enthusiasmus und Dilettantimsus. Geld war nämlich nur spärlich vorhanden, sodass die Moderatoren (auch VJs genannt) vor ziemlich billigen Pappkulissen herumturnen und ihre Sendungen größtenteils am seidenen Faden der Improvisation abwickeln mussten. DIes taten sie jedoch mit einer an Hyperaktivität grenzenden Begeisterung, die sich auch auf das jugendliche Publikum übertrug. Die Moderatoren der Neunziger, allesamt um die 20 Jahre alt, waren nicht nur reine Clipansagemaschinen, sondern auch Identifikationsfiguren für eine ganze Generation von fernsehschauenden Heranwachsenden. 


Nicht vergessen: Wir befinden uns hier noch in der guten alten Zeit. Internet wurde pro Minute abgerechnet und Handys waren so groß (und unpraktisch) wie Telefonzellen. Dennoch wurde Interaktivität bei VIVA groß geschrieben. Viele Shows drehten sich darum, dass Zuschauer beim Sender anriefen, sich Clips wünschen durften oder bei Spielen mitwirken konnten. Besonders das sinnig betitelte "Interaktiv" war diesbezüglich das Flaggschiff. Bei dieser Sendung wurden Stars greifbar, indem sie auf dem quietschbunten Sofa dümmliche Fragen der mindestens koffeinisierten Moderatoren beantworteten und dem gruselig gekleideten und aknegeplagten Teeniepublikum im Studio sogar noch ein Ständchen gaben. Bisweilen nutzten Prominente die Show auch für ganz und gar boshaften Schabernack. So trat Hape Kerkeling als finnischer Rocker "R.I.P. Uli" auf und brachte mit seiner Kooperationsunlust die ziemlich überforderte Moderatorin Milka (ja, die hieß wirklich so!) zur Verzweiflung.


VIVA fungierte für viele heute noch bekannte Mediengrößen als Startrampe, so machten unter anderem Heike Makatsch, Stefan Raab oder Matthias Opdenhövel ihre ersten tapsigen Schritte im Lichte der TV-Kameras der Videoverwertungsanstalt. Auch mediale Unsäglichkeiten wie Oliver Pocher oder Gülcan Kamps durften ihr eher überschaubares Talent bei VIVA der Öffentlichkeit präsentieren. Während meiner VIVA-Zeit (1995 - 1999) lief der Sender eigentlich fast jeden Tag nebenbei, bzw. wurde angezappt, wenn woanders gerade Werbung lief. Meine absolute Lieblingssendung jener Tage war das von Tobias (Tobi) Schlegl moderierte "kEwL". Diese Sendung kann am ehesten mit dem Wort "Anarchie" beschrieben werden. Angelehnt an die immens erfolgreichen Formate des Stefan Raab drehte sich bei "kEwL" alles um den fröhlich dahinbrabbelnden Moderator, der sich fast nach Belieben austoben durfte.


Neben den üblichen Videoclips bestach Schlegls Show vor allem durch eingestreute Comedy-Filmchen, die den Jungspund in allerlei verfänglichen Situationen zeigten, bzw. parodistisch angelegt waren. Der behaarte und urkölsche Sidekick Schlegls in diesen Filmen war der "Minipli Man", ein Zeitgenosse, der ungefähr den selben Sex-Appeal wie eine durchschnittlich attraktive Mettwurst verströmte. Der "Minipli Man" begegnete den infantilen Späßen seines Counterparts mit rheinischem Gleichmut, woraus nicht selten herrlich absurde Situationskomik entstand. Unvergessen ist zum Beispiel "Müchü Mün", eine ganz und gar schauderhafte Neuvertonung obskurer türkischer Actionstreifen aus grauer Vorzeit:


Mitte bis Ende der Neunziger war VIVA derart erfolgreich, dass sich die Betreiber sogar den Luxus erlauben konnten, einen weiteren Kanal an den Start zu bringen: VIVA ZWEI widmete sich der alternativen Musik, und errang binnen kürzester Zeit Kultstatus bei Fans schräger Klänge. Die Person, die VIVA ZWEI verkörperte wie keine andere war Charlotte Roche, deren radikal verdrehte Interpretation des Girlie-Prinzips perfekt in Zeit und Glotze passte. Profitabel war das "andere" VIVA sicherlich nicht, es zeugt jedoch von gewissem Mut, in einer Ära, in der die alternative Musik in Ziellosigkeit und Epigonentum badete, einen solchen Sender zu lancieren. Und natürlich gab es auch echte musikalische Perlen zu entdecken, wofür ich und sicherlich viele meiner Altersgenossen Roche, Kavka, Clein (Gott hab ihn selig...) und Kollegen  sehr dankbar sind.


Mit VIVA ging es spätestens nach der Jahrtausendwende steil bergab. Der Siegeszug des Internets bedeutete auch eine existenzielle Krise für das Musikfernsehen. Plötzlich musste man nicht mehr Stunden vor dem TV verbringen, um "sein" Video zu sehen. Auch die meisten Moderatoren der Anfangstage hatten dem Sender den Rücken gekehrt und sich auf mehr oder minder erfolgreiche Karrierewege begeben. Einzig der unverwüstliche Mola Adebisi blieb dem Sender bis 2004 erhalten. Auch VIVA ZWEI wurde bereits 2002 zur Klingeltonhölle VIVA plus umstrukturiert. Der letzte Unterhaltungsfaktor, der durch VIVA populär wurde, war der heute omnipräsente Klaas Heufer-Umlauf, der zwischen 2004 und 2009 bei dem Kölner Sender arbeitete. Der Charme der Anfangstage war da aber schon längst verflogen. 

Heute existiert VIVA tatsächlich immer noch, auch wenn es inzwischen dem amerikanischen Medienkonzern Viacom gehört und nur noch äußerst selten Musikvideos ausstrahlt. Wer heute bei VIVA landet, wird meistens von Cartoonserien begrüßt. Sic transit gloria schundi.



DING DONG, ZWOBOT IST TOT.