Donnerstag, 18. April 2013

Mike Oldfield, oder: 40 Jahre Niedergang (Teil 2)

Lasst uns zunächst über Skispringen reden. Viele Menschen mögen diese Sportart langweilig und dröge finden, ich gehöre jedoch jener standhaften Minderheit an, die jeden Winter den großen Wettkämpfen entgegenfiebert und sich an den akrobatischen Leistungen solch illustrer Herren wie Janne Ahonen oder Gregor Schlierenzauer begeistern kann. In nur wenigen Sekunden beschleunigt ein Skispringer von 0 auf 100 Stundenkilometer, und im Bruchteil einer Sekunde entscheidet sich beim Absprung, ob man Zeuge eines neuen Schanzenrekordes oder eines Hüpfers auf den Vorbau wird. Nur wenigen Athleten ist es gelungen, in dieser hochkomplexen Sportart über mehrere Jahre zu dominieren, vielen Sportlern ist es maximal vergönnt, nur in einer oder zwei Saisons um Siege mitzuspringen, bevor sie sich im Heer der mittelmäßig erfolgreichen Springer einreihen.

Ein besonders prominentes Beispiel für dieses Phänomen ist der deutsche Skispringer Martin Schmitt. Ende der Neunziger war er Anfang zwanzig und gewann so ziemlich alles, was man gewinnen kann. (bis auf die Vierschanzentournee) Zu Beginn des letzten Jahrzehnts wurde er allerdings von Regeländerungen und Verletzungen so zurückgeworfen, dass er fortan nur höchst sporadisch wieder den Anschluss an die Weltspitze finden sollte. Aufgegeben hat er indes bis heute nicht - auch mit 35 Jahren stürzt sich der Schwarzwälder noch immer Winter für Winter in die Tiefe.

Was das alles mit dem Musiker Mike Oldfield zu tun hat? Mehr als ihr denkt. Auch Oldfield war es gelungen, in jungen Jahren einige bis heute herausragende Alben aufzunehmen. Getragen von virtuosem Gitarrenspiel verwob er auf seinen ersten vier Veröffentlichungen Folk, minimal music und Rock zu einer faszinierenden Melange. Oldfield ist heute über 60 Jahre alt und seit nunmehr 40 Jahren im Musikbusiness tätig; den Anschluss an sein Frühwerk hat er allerdings schon seit sehr langer Zeit verloren, was ihn jedoch nicht daran hindert, regelmäßig neue Machwerke auf die Menschheit loszulassen.

Dieser zweite Teil meiner großen Oldfield-Retrospektive möchte sich der Zeit zwischen 1979 und 1989 widmen - jenem Jahrzehnt, das wie kein anderes den künstlerischen Niedergang eines außergewöhnlich talentierten Mannes dokumentiert. Bis zum heutigen Tage streiten Fans darüber, ob es nun an Oldfields Plattenfirma Virgin Records, dem negativen Einfluss seiner zweiten Frau (Mikes Yoko hieß Anita), oder doch schlicht und ergreifend am Geruch des Geldes gelegen hat - egal, welche Theorie man favorisiert, das Desaster bleibt bestehen:


Bevor Missverständnisse aufkommen gilt es, zunächst noch einmal eines klarzustellen: Auch in den 70ern war der englische Multiinstrumentalist nicht vollends trittsicher unterwegs gewesen. So gab es auf jedem seiner ersten Alben Momente, die aus heutiger Perspektive wie erste Zeichen kommenden Unheils wirken: Banale Melodien, käsige Akkordwechsel, uninspirierte Zwischenspiele. Die Kompositionen erwiesen sich jedoch im Ganzen als zu ausgefuchst, als dass sie von solchen Misstönen hätten zerstört werden können.

Trotz aller Sperrigkeit mancher Stücke (dies gilt v.a. für "Incantations" und "Hergest Ridge") lebte Oldfields Musik von der außergewöhnlichen Beziehung zwischen entwaffnend simplen melodischen Leitmotiven und der überbordenden Polyphonie seiner Arrangements. Der Mann wollte hoch hinaus und war sich nicht zu schade, sich monatelang zu verschanzen, um in mühsamer Kleinarbeit wahre Klangkaskaden auf Platte zu bannen. Vielleicht war es genau jener raumgreifende Wille zur orchestralen Fülle, der fast zwangsläufig eine Gegenreaktion zur Simplifizierung provoziert hat.

Schon das 1979 erschienene "Platinum" deutete an, dass Oldfield im Begriff war, sich von seinem bisherigen Erfolgsrezept zu verabschieden. Zwar bestand die A-Seite des Albums wieder aus einer langen, rein instrumentalen Komposition, doch gab es diesmal zum ersten Mal auch kürzere, teils fast schon primitive Stücke auf der B-Seite zu hören. Doch selbst die titelgebende Platinum-Suite war bei weitem nicht mehr so opulent angelegt wie z.B. Teile des Ommadawn-Albums.

Ein Highlight der zweiten Hälfte ist sicherlich das verschmitzte "Punkadiddle", welches schamlos irische Tanzmusik mit schrammeligen Gitarren verknüpft. (Es wird erzählt, dass Mike Oldfield auf diese Weise seinen Unmut über sein Label bekunden wollte - Virgin versuchte in jenen Jahren auf den schon abgefahrenen Punk-Zug aufzuspringen, was dazu führte, dass "Platinum" eher unzureichend vermarktet wurde.)


Noch viel offensichtlicher wurde Oldfields Wandel auf dem nächsten Album "QE2". Lediglich das eröffnende "Taurus 1" und der Titeltrack knackten die 7-Minuten-Marke, die restlichen Stücke waren zwischen einer (!) und fünf Minuten lang und orientierten sich in ihrer Struktur bereits stark am Popsong. Oldfield, Mk. II ging sogar so weit, ABBA zu covern, wobei gesagt werden muss, dass "Arrival" bei weitem nicht so schlimm ist, wie man vielleicht annehmen möchte. "QE2" hat seine stärksten Momente in der unverschämt eingängigen Trommelorgie "Celt" und dem fiebrigen "Conflict", das eine der lautesten und härtesten Oldfield-Kompositionen darstellt.

Wer kein Problem mit scheußlichen Klamotten und fragwürdigen Frisuren hat, sollte sich übrigens unbedingt die DVD "Live in Montreux" zu Gemüte führen. (das Konzertvideo gibt es auch auf YouTube) Dieses 1981 aufgenommene Konzert zeigt Oldfield noch einmal auf der Höhe seines Könnens. Getragen von furiosem Drumming zelebrieren Oldfield und Band noch einmal all jene großen Momente des Frühwerks und hauchen auch neueren Kompositionen eine gute Portion Leben ein.



Oldfields Transformation zum Popmusiker war auch auf dem 1982 veröffentlichten "Five Miles Out" nicht mehr von der Hand zu weisen. Mit "Family Man" befand sich nämlich zum ersten Male ein "richtiger" Song (d.h. mit Gesang, Gitarrensolo und Strophe-Refrain-Schema) auf einem Album des Engländers. Gesungen wurde das an die Rockmusik der 70er erinnernde Lied von Maggie Reilly, einer schottischen Sängerin, deren Stimme in den Folgejahren noch einige der bekanntesten Oldfield-Hits zieren sollte. Ebenfalls erwähnenswert ist das Titelstück, ein faszinierender Zwitter aus atmosphärischem Pop und keifendem Hardrock.



Es mag wie ein Treppenwitz wirken, dass gerade das über zwanzig Minuten lange "Taurus 2" am ehesten davon zeugt, dass Oldfield auf bestem Wege war, völlig aus der Bahn zu geraten. Fast schon lieblos werden hier Teile aneinandergereiht, einen die Komposition zusammenhaltenden Spannungsbogen sucht man vergebens. Während zuvor die einzelnen Teile der Suiten filigran verwoben waren, regierten nun bis an die Peinlichkeitsgrenze aufgeblasene Versatzstücke, die mehr oder minder willkürlich aneinandergereiht wirkten. 

Wohin geht die Reise also, wenn sich eine so offenkundige Schaffenskrise ankündigt?

Die Antwort: An die Spitze der Charts. Ein Jahr nach "Five Miles Out" hatte sich Mike Oldfield entgültig entschieden. Die Folgealben "Crises" und "Discovery" markierten den kommerziellen Höhepunkt des Musikers. Songs wie "Moonlight Shadow", "To France" oder "Shadow on the wall" zählen heute zu jenem Pantheon des Grauens, das einem Formatradiosender als "Classic Rock" verkaufen wollen. Gewiss, eingängig sind sie ja, diese Schlager. Und Maggie Reillys Stimme verleiht Liedern wie "Foreign Affair" eine engelshafte Eleganz, die sie gar nicht verdient hätten. Im Vergleich zu späteren Katastrophen sind die großen Singlehits jener Ära sogar noch immer halbwegs hörbar - und das will was heißen.

Während man nämlich bis Mitte der Achtziger noch den Eindruck gewinnen konnte, dass Mike Oldfield durchaus Spaß an seiner neuen Identität als Popmusiker hatte, sollte sich das Bild in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts auf dramatische Weise wandeln. "Crises" und "Discovery" waren banale Alben, die aber noch von melodischem Einfallsreichtum und der Strahlkraft manch genialer Momente zehren konnten - die danach erschienenen "Islands" und "Earth Moving" waren Schund, richtig schlimmer Schund.

Gerade "Earth Moving" zählt zu den albtrauminduzierendsten Alben der Achtziger. Man muss ich v.a. vor Augen führen, dass es im Jahr 1989 veröffentlicht wurde, jedoch eher wie ein Album, das fünf Jahre früher entstanden war, klingt. Gegatete Drums in bester Phil Collins-Manier treffen auf seifige Keyboardstreicher, der meist bis zur Debilität verhallte Gesang (u.a. von Oldfields Gattin in dem gruseligen "Innocent") kündet von Apokalypsen, die nicht einmal Nostradamus vorhersehen konnte. Hört euch am besten die beiden nach diesem Absatz verlinkten Songs an und bildet euch selbst ein Urteil - ich ertrage es kaum, weitere Worte über diese Schall gewordene Bankrotterklärung zu verlieren.

Fassen wir also zusammen: Die Achtziger sind Oldfields tragisches Jahrzehnt. Das alte Erfolgsschema (lange Instrumentals) war einem neuen (eingängige Liedchen) gewichen. Die zu Beginn dieser Schaffensphase noch immer aufblitzende Genialität hatte sich spätestens zu "Islands" völlig aus dem Staub gemacht und sollte fortan nur noch sporadisch im Hause Oldfield zu Besuch kommen. Wie oben bereits angedeutet, ist eine Teilschuld sicher auch bei Virgin Records zu suchen, da das Label Oldfield konsequent davon abhielt, nach den großen Singlehits wieder progressivere Töne anzuschlagen. Dennoch bleibt festzuhalten, dass der Kommerzzwang allein keine gültige Ausrede für solch grässlichen Kleister wie "Holy" sein darf. Er hätte doch wenigstens guten Schrott zur Devisenbeschaffung machen können, der Mike.

Dass er noch immer zu mehr als Aufzugsbeschallung in der Lage war, sollten die Neunziger zeigen. Dass er den Weg aus der künstlerischen Stagnation nicht mehr wirklich finden würde allerdings auch.

Eines muss man der zweiten Phase aber zugutehalten: Es kam kein einziges Album, das "bell" oder "tubular" im Titel enthielt, heraus.

Paul Kuhn Trio - The L.A. Session (2013)

7/10

Während andere sich damit zufrieden geben, der Handlung eines Rosamunde Pilcher-Films folgen zu können, interpretiert Paul Kuhn das Leben im Alter anders. Dieser nun auch schon fünfundachtzigjährige Herr, der leider den meisten Menschen noch immer nur als Sänger solch grässlicher Karnevalsliedchen wie "Es gibt kein Bier auf Hawaii" bekannt ist, beweist auf seiner jüngsten Veröffentlichung "The L.A. Session", dass er noch immer den Groove hat. Kuhn ist kein Schlagerheini, er ist Jazzer.

Und er ist ein begnadeter Pianist, dessen leichtfüßiges und harmoniegesättigtes Spiel hervorragend zum eleganten Rhythmusteppich seiner Bandkollegen (John Clayton am Bass, Jeff Hamilton an den Drums) passt. Unglaublich abgezockt und entspannt wirkt das, was diese drei Männer da auf ihren Instrumenten fabrizieren. Natürlich sind ihre Interpretationen von Klassikern wie "Ornithology" oder "As time goes by" keine Neuerfindungen irgendwelcher Räder. Hier haben Musiker einfach Spaß daran, gemeinsam zu spielen, und das hört man.

Diese Spielfreude zieht sich duch das gesamte Album. Sei es im Flamenco andeutenden "There will never be another you" oder im lässig swingenden "My heart stood still", hier sind Könner am Werk, die sich von nichts und niemandem aus der Ruhe bringen lassen. Man möchte sich Whisky einschenken, eine Zigarre rauchen und in Gedanken schwelgend dem Morgengrauen entgegensaufen, so herrlich altmodisch swingt das hier.

Das Album ist erfreulich trocken und klar produziert, effektbeladenen Schnickschnack sucht man vergebens - wofür auch? Klavier, Bass, Schlagzeug, manchmal Gesang; mehr braucht es nicht. 

Es bleibt zu hoffen, dass Kuhn noch einige weitere Alben dieser Güteklasse vergönnt sein werden. Die Musikwelt braucht alte Männer mit Stil.

PS: Beim nächsten Album sollte er sich allerdings einen neuen Coverdesigner besorgen. Oder seinem jetzigen wenigstens sagen, dass WortArt nicht mehr cool ist. (und es wahrscheinlich auch nie war.)

"The L.A. Session" ist im März 2013 bei In and Out erschienen.

Mittwoch, 10. April 2013

Depeche Mode - Delta Machine (2013)

5/10

Fallen wir mal einer Tür in die Mehrzweckhalle: Auch wenn ein Großteil des Feuilletons das neueste Werk des englischen Trios feiert, stellt "Delta Machine" für mich einen der Tiefpunkte der mittlerweile dreißig Jahre währenden Karriere von Depeche Mode dar. Wohlgemerkt: Einen der Tiefpunkte, nicht die ultimative Katastrophe. Angesichts der so glorreichen Vergangenheit der Band scheint mir jedoch gerade die Mittelmäßigkeit am schmählichsten zu sein. Dieses Album macht ja nicht mal wirklich betroffen - es ist einfach nur schrecklich egal.

Dabei hat die Gruppe mit "Delta Machine" zumindest wieder einmal einen prägnanten Albentitel gewählt (nach dem...weniger famosen "Sounds of the Universe"), und der Opener "Welcome to my world" gefällt mit dumpfem Dröhnen und minimalistischer Melodieführung. Doch schon schon bei "Angel" offenbart sich das ganze Dilemma. Dave Gahan röhrt wie zu "Condemnation"-Zeiten, nur leider will das an Martin L. Gores jüngste Solo-Eskapaden ("VCMG") erinnerde Synthiegeknarze nicht recht zu dem überkandidelten Soulgegröhle des Frontmannes passen. In der Mitte des Songs klafft ein riesiges Loch, das auch der melancholische Refrain nicht stopfen kann.

"Delta Machine" will - wie der Titel bereits vermuten lässt - die beiden tragenden Elemente des Depeche-Mode-Sounds zusammenführen: Die seit "Violator" offen zur Schau gestellte Liebe zu Blues und Soul und die schon immer prominente manische Elektronikbastelei sollen also (wieder einmal) zusammenfinden. Welch hehres Ziel, welch grandioses Scheitern. Vielleicht sind es die größtenteils zahnlosen Synthieklänge, vielleicht auch die mangelnde Einprägsamkeit der meisten Lieder, die den Zugang zum Album so erschweren, vielleicht ist es aber auch das Fehlen wirklich neuer Impulse.

So suhlt sich "Secret to the end" in "Songs of faith and devotion"-Reminiszenzen (die Gitarre in der Bridge!), und kontrastiert diese Einflüsse mit den minimalistisch-sphärischen Synthieflächen der jüngeren Alben. Das stoisch groovende Finale des Songs rettet, was zu retten ist - aber auch nicht viel mehr. Hängen bleibt da jedenfalls nicht viel.

Dass es besser hätte enden können, zeigt das blubbernde "My little universe", in dem Gahan ausnahmsweise mal nicht den brünftigen Zögling von Huey Lewis gibt, sondern sich in Zurückhaltung übt. Die herrlich trockene Schlussabfahrt im Acid-House-Stil setzt dem Ganzen dann die wohlverdiente Krone auf. Auch die erste Singleauskopplung "Heaven" weiß durchaus zu gefallen, gerade in der reduzierten Liveversion, die die Band zum Release der Platte ins Netz stellte:


Wenn aber eine Band, die bis vor wenigen Alben nahezu ausschließlich Hits geschrieben hat, sich auf Albenlänge der Belanglosigkeit preisgibt, schmerzt das. Die Dunkelheit, die früher Songs wie "Sister of night" innewohnte, sucht man auf "Delta Machine" fast vergebens. Stattdessen bekommt man abgeschmackte Geisterbahnbeschallung im 6/8-Takt ("Slow"), oder gar pure Langeweile ("Broken", "Should be higher") präsentiert.

Ein hauptberuflicher Beschöniger mag vielleicht Wege finden, sich Machwerke wie "Soft Touch / Raw nerve" gefällig zu biegen, ich schaffe es nicht. Alles, was ich hier höre, ist ein schlecht geklautes Motiv von "Beside you in time" von Nine Inch Nails, das so bedeutungsgeschwängert wurde, dass man es abtreiben möchte. ("oh brother, give my your helping hand, oh brother, tell me you understand!") How about no?

Man muss Depeche Mode durchaus zugutehalten, dass sie noch immer eine der wenigen Bands der Achtziger sind, die nicht gänzlich irrelevant und / oder peinlich geworden sind. Nur dieses besondere Talent für große Melodien ist ihnen abhanden gekommen, wenngleich es an manchen Stellen immer noch aufblitzt. ("Alone", "The Child inside") Während jedoch früher diese Melodien über den Arrangements thronten, werden sie heute schamlos kaputtproduziert. Wo ist sie hin, diese entwaffende Klarheit früherer Aufnahmen? Man höre "Policy of truth" und weine.

Dass selbst das mit der Peinlichkeit in Zukunft noch so eine Sache werden könnte, zeigen die letzten beiden Songs des Albums: "Soothe my soul" und "Goodbye" klingen nach B-Seiten einer Depeche Mode-Coverband - wenn man nett sein möchte. Wenn man ehrlich ist, sind diese Songs schlicht grausam. Leiernd, dröge, uninspiriert.

"Delta Machine" macht traurig, denn es ist das erste Depeche Mode-Album seit sehr langer Zeit, bei dem man schon beim zweiten Hördurchlauf Songs skippt. Und es ist das schlechteste Depeche Mode-Album seit "A broken frame". Und das ist 31 Jahre alt.

"Delta machine" ist 2013 bei Sony Music erschienen und wurde von Ben Hillier produziert.

David Bowie - Low (1977)


Vorbemerkung: In der Kategorie "Inselmaterial" spreche ich über meine ganz persönlichen Lieblingsalben. Wer hier historisch informierende Rezensionen sucht, ist definitiv an der falschen Adresse. Hierfür empfehle ich ein Abonnement einer Musikzeitschrift freier Wahl. (Oder den Besuch von allmusic.com) Ich erinnere mich ans Hören, lose schreibend.

Empfehlung: Erst die A-Seite hören, dann während der B-Seite den Text lesen.

Es ist verdammt kalt an diesem Ort, der Lärm und Beton atmet. Zugig ist es, und ich grabe meine Hände tiefer in die Taschen meiner abgetragenen Winterjacke. Ich beschließe, mir einen trockenen Platz zum Sitzen und Starren zu suchen. In meinen Ohren hallen ferne Geräusche der Wirklichkeit wider, Erinnerungen an jene Wüste, die ich meine Heimatstadt nannte. Die Wüste, die ich bald hinter mir lassen werde, sofern es mir gelingt, einen Weg zu finden. Aber zunächst gilt es, sich einen Unterschlupf zu suchen und sich nicht dabei erwischen zu lassen.

"Warszawa" erklingt von irgendwoher, vielleicht aus glücklicheren Zukünften. Ich erhasche einen kurzen Blick auf den blauen Himmel, bevor sich die Wolke aus Asche und Staub erneut schließt und jedes Sonnenlicht verschluckt. Wer hat diese Stadt erbaut? Und warum bin ich noch immer nicht Vergangenheit? Mit geschlossenen Augen taste ich mich an einer aus der Mitte meines Lebens ragenden Mauer entlang, bis ich eine kleine Nische finde, in welche ich mich verkriechen kann. Was mache ich hier?

"Art decade". Dabei hatte es sich gestern noch so gut angefühlt, sich fallen zu lassen. Nicht nur in irgendwelche Arme, das genügt mir schon lange nicht mehr, nein, ich fiel tiefer, endgültiger. Ich war mir sicher, endlich angekommen zu sein, endlich ausgebrochen zu sein aus dem ewig währenden Zyklus. Dämmern und leuchten, dämmern und leuchten. Bis hin zu einer Auslöschung, über deren genaueren Ablauf noch zu sprechen sein wird.

"Weeping wall". Ist das mein Herz, das so unruhig schlägt, oder ist das nur eine Vibration, die von den großen Maschinen hervorgerufen wird? Ich möchte schreien, so sehr schmerzt mich der Gedanke an die vergangene Nacht. Ausgebrochen waren wir, nicht ich, wir! Aus dem Sumpf, dem Einheitsbrei. Wie Künstler, richtige Künstler, fühlten wir uns. Um uns herum Kreischen, Heulen und Hoffen und wir... ich spüre, dass ich den Tränen nahe bin. So bunt hatte alles gewirkt. So echt.

"Subterraneans". Vielleicht müssen wir uns noch eine Weile gedulden, ich und die Stadt. Ein Loch graben, in welchem wir auf die Sonne warten können. Klang und Vision, das war es gewesen! Wir hätten die Welt auf den Kopf stellen können, wenn wir durchgehalten hätten, hörst du? Hörst du mich?

Alles weg, alles umsonst. Ich hätte vielleicht nicht so weit gehen dürfen, ich hätte meiner Angst nicht auf diese Weise Ausdruck verleihen dürfen.

Ich vergesse mein Gesicht und lasse meiner Trauer freien Lauf. Wenn ich hier bleibe, merkt niemand, dass ich verschwunden bin.

Der lange Weg zur Top 100

Nicht erst seit Nick Hornbys "High Fidelity" ist des Musiknerds liebste Beschäftigung das Erstellen mehr oder weniger sinniger Listen. Wobei ich anmerken möchte, dass ich bis dato in dieser Hinsicht relativ harmlos unterwegs war. Eine Top 20 meiner liebsten R.E.M.-Songs hier, eine Top 10 der besten Scooter-Alben da, ansonsten wenig Auffälliges. 

Jetzt möchte ich mich aber doch mal an etwas Größeres wagen. Die hundert Lieblingsalben und -songs zu bestimmen, das ist das Ziel. Bei gefühlt 20000 gehörten Platten ein verdammt schwer zu erreichendes. Zwar gibt es manche Alben wie z.B. "Horses" von Patti Smith, die unbedingt auf die Liste müssten - aber auf welchen Platz? Ich kann ja nicht einmal beantworten, was meine Lieblingsbands sind, ohne mindestens 50 Künstler aufzuzählen...

Nun, was soll's, es muss sein. Auch und vor allem, weil ich es bisher noch nicht gemacht habe.
In diesem Blog werde ich regelmäßig Wasserstandsmeldungen aus der Firma Listenmacher und Söhne veröffentlichen, einleitend werde ich nun erstmal zehn Alben posten, die garantiert nicht auf meiner Liste landen werden, da ich sie hasse. 
Aus spannungstechnischen Gründen beginnen wir mit dem zehnten Platz:

10.Various Artists - Armageddon The Album
Grund: "I don't want to miss a thing", brauchts mehr?

9. Zwan - Mary Star of the Sea
Gründe: Fehlende Songs und Billy Corgan post "Adore".

8. Metallica & Lou Reed - Lulu
Gründe: Offensichtlich.

7. Mike Oldfield - Earth Moving
Grund: Albträume nach einmaligem Konsum.

6. Daft Punk - Human after all
Gründe: Kontroverse! Und wegen der Musik.

5. Alanis Morissette - So-called chaos
Grund: Stellvertreteralbum für alle Heulbojen jüngeren Datums.

4. Alexander Markus - Elektrolore
Grund: Stellvertreteralbum für alles "Lustige".

3. Manowar - Gods of war
Gründe: Intros, Interludes, Monologe, Chöre...und keine Eier.

2. Haggard - Awaking the centuries
Grund: Vereint alles, was an neoromantischen Strömungen zu verachten ist.

1. Farin Urlaub - Endlich Urlaub!
Grund: Ich musste dieses Album ca. 100 Mal hören - ohne es zu wollen. Das hinterlässt Spuren. ("MEIN NAME IST URLAAAUB! MEIN NAME IST FAAARIN U!")

Hass.

Montag, 1. April 2013

Musik non stop - Ein Streifzug durch gegenwärtiges Hören

1. Illegal, scheißegal

Erinnern wir uns zurück. Vor ca. 10 Jahren war der Aufruhr groß, als Lars Ulrich sich anschickte, die Downloadplattform Napster mit Schimpf und Klage zu Fall zu bringen. Der illegale und vor allem kostenlose Konsum teuer produzierter Musik stieß nicht nur dem Metallica-Drummer sauer auf, auch viele große Platten- und Vertriebsfirmen kämpften gegen das wuchernde Geschwür. Was in den Achtzigern das Hometaping war, hieß nun Filesharing.

Das Breitbandinternet war gerade dabei, sich durchzusetzen und für jedermann bezahlbar zu werden, sodass die Zeiten gefühlt tagelanger Downloads der Vergangenheit angehörten. Plötzlich war es möglich, ganze Alben binnen weniger Minuten in digitaler Form auf seine Festplatte zu befördern. Die immense Popularität, der sich Seiten wie Napster oder KaZaA erfreuten, sorgte nicht zuletzt dafür, dass sogar in den traditionellen Medien über das Internetphänomen berichtet und zum ersten Male die Frage nach einer eventuellen Medienrevolution formuliert wurde...

Mike Oldfield, oder: 40 Jahre Niedergang (Teil 1)

"Wenn man glaubt, es geht nicht mehr, kommt irgendwo ein Lichtlein her." So geht der meist wenig zitierfähige Volksmund mit ausweglosen Situationen um. Die Hoffnung wird nicht aufgegeben, ganz gleich wie zappenduster es geworden sein mag. Es besteht immer eine Chance auf Besserung.
Der Volksmund kennt Mike Oldfield nicht, andernfalls würde er seine positive Weltsicht eventuell noch einmal überdenken.

Das letzte wirklich überzeugende Album des Herrn Oldfield stammt aus dem Jahre 1990, wobei er beinahe die gesamten Achtziger damit verbracht hatte, die Welt mit Ausschussware zu beglücken, sodass wir nun schon auf beinahe dreißig Jahre Fahrstuhlmusik und noch weit größere Schrecken zurückblicken können. Doch lassen wir Graphen und Zahlen sprechen:

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Dabei hatte es eigentlich vielversprechend begonnen, damals. Anfang der 1970er-Jahre war Mike Oldfield ein schüchterner junger Mann, der von der just gegründeten Plattenfirma Virgin die große Chance erhalten hatte, in Eigenregie seine musikalischen Wunschträume zu vertonen. Und Mike ließ sich nicht zweimal bitten. Er schloss sich monatelang im Studio ein, schichtete Spur um Spur übereinander, komponierte, resignierte, redigierte nur um am Ende mit dem noch heute höchst erstaunlichen "Tubular Bells" das Studio zu verlassen und im Jahre 1973 die Herzen vieler Musikliebhaber im Sturm zu erobern.

"Tubular Bells" ist ein größtenteils instrumental gehaltenes Album, das frei zwischen minimal music, irischer Folklore und mit Elektronik experimentierenden Passagen mäandert. Allein die ersten vier Minuten des ersten Teils der Komposition sind von ikonischer Qualität. Ein ebenso minimalistisches wie eingängiges Pianomotiv legt das Fundament für sich kunstvoll überlagernde Tonspuren verschiedener Instrumente (Glockenspiel, Gitarren, Mandoline, uvm.), bereits hier zeigt Oldfield wie meisterhaft er mit Klangfarben und Dynamik zu spielen vermag. Melodien gehen nahtlos ineinander über, Spannungsbögen erstrecken sich über mehrere Tempo- und Tonartwechsel hinweg - die Vehemenz mit welcher hier komplexe Polyphonie und simplizistische Melodieführung zusammengeführt wird, zeugt von einer klaren künstlerischen Vision. Der erste Teil von "Tubular Bells" schließt mit einem mehrminütigen, auf einem treibenden Bassostinato basierenden Crescendo, an dessen Ende die titelgebenden Röhrenglocken effektvoll zum Einsatz kommen. Ein finale furioso für ein packendes Stück Musik.


Auch wenn die zweite Hälfte des Albums ein wenig abfällt, ist "Tubular Bells" eines der eigenständigsten und auch eigenartigsten Debütalben der Popgeschichte. Dass die Platte sich millionenfach verkaufte, macht die Sache umso eindrucksvoller. Oldfield hatte Virgin zu einem gelungenen Start verholfen und sich selbst zur Kultfigur gemacht. Vom eigenbrödlerischen Genie, das manisch ganze Nachte im Studio experimentiert und dabei zahllose Instrumente und Tonbänder verschleißt, war die Rede. "The King of Overdubs" war gekrönt.

Das Nachfolgealbum "Hergest Ridge" übernahm konsequent einige Stilmittel (zwei lange Parts, minimalistische Leitmotive, Röhrenglocken, Crescendi) des Debüts, ohne dabei als bloßer Aufguss daherzukommen, im Gegenteil: Während auf "Tubular Bells" die zahlreichen, meist sehr kurzen Motive in rascher Folge aneinandergereiht wurden und sich stellenweise sogar überlagerten, nimmt sich das zweite Album viel Zeit. Die wenigen Hauptmelodien werden gefühlvoll über mehrere Minuten hinweg entwickelt, das Arrangement lässt trotz teils üppig orchestrierter Abschnitte genügend Räume für einzelne Instrumente und deren Klangeigenschaften. (man höre hier z.B. die Oboe in der Mitte des ersten Teils) "Hergest Ridge" ist Oldfields rundestes Album, selbst der im letzten Viertel des Werks unvermittelt losbrechende "Thunderstorm", für den angeblich siebzig Gitarrenspuren übereinandergelegt wurden (s.o.), wirkt nicht wie ein Fremdkörper. Die pastorale Stimmung, die dem Album innewohnt, sucht ihresgleichen. Nie war Oldfield ergreifender als auf "Hergest Ridge".


(Hörtipp: Besorgt euch unbedingt den Originalmix von 1974; auch wenn dieser an einigen Stellen etwas roher daherkommt, ist er insgesamt dynamischer und unmittelbarer als spätere Mischungen.)

Da auch Platte Nummer zwei die Spitze der UK-Charts erklimmen konnte, war Mike Oldfield nun ein veritabler Star. Der Musiker, der zu jener Zeit gerade einmal zwanzig Jahre alt war, weigerte sich aber noch immer standhaft, das Licht der medialen Öffentlichkeit zu suchen. Nach einer zu vernachlässigenden orchestralen Neufassung des Debüts, die jedoch als erster Vorbote späterer Untaten gesehen werden kann, widmete sich der Multiinstrumentalist der Produktion seines dritten Werkes, welches auf den Namen "Ommadawn" hören sollte und im Jahr 1975 veröffentlicht wurde. 

Zu den ohnehin bis dato prägenden folkloristischen Einflüssen gesellten sich nun erstmals perkussive Elemente, die in Verbindung mit an afrikanische Gesänge erinnernden Chorpassagen für Spannung sorgten. Auf "Ommadawn" regiert die Zerissenheit. Ungezügelt fröhliche Volksweisen werden im ersten Teil von minutenlangen Synthesizerattacken kontrastiert, ehe sich das Stück in einem der Ekstase zustrebenden Veitstanz verliert. Den dramatischen Höhepunkt liefert Oldfields entfesselt jaulende Gitarre, deren unverkennbarer Sound sich tief in die Gehörgänge des mitfiebernden Hörers fräst. In der zweiten, insgesamt etwas ruhigeren Hälfte des Albums wartet Oldfield dann mit einer weiteren Überraschung auf: Am Ende erklingt der Song "On a horseback", ein schlichtes kleines Folkstück inklusive Kinderchor, welches von den Freuden des Ausreitens berichtet. Das klingt nicht nur verschroben, das ist es auch. Aber gerade im Kontext der zuvor erklungenen, sehr dichten und auch anstrengenden Komposition ist "On a horseback" Ton gewordenes Aufatmen.



"Ommadawn" ist der leider viel zu früh gekommene Höhepunkt des Schaffens Mike Oldfields. Das Album beinhaltet alle stilprägenden Elemente seiner Musik, ohne sich wie spätere Werke in ernüchternder Biederkeit zu gebärden. Vom nach 1980 akut um sich greifenden Ideenmangel, der in peinlichen Selbstplagiaten gipfeln sollte, reden wir besser auch noch nicht. Das Lächeln, das man nach dem Hören der ersten drei Oldfield-Alben im Gesicht trägt, wird nämlich noch früh genug vom Gesicht verschwinden müssen.

Mit seinem vierten Longplayer "Incantations" beschritt der Engländer 1978 ein weiteres Mal neue Wege, ohne seinen bisherigen Stil zu verleugnen. "Incantations" ist mit über 70 Minuten Spielzeit das längste Oldfield-Album, es besteht aus vier langen Instrumentaltiteln. Im Gegensatz zu den dramatisch arrangierten Vorgängern regieren auf "Incantations" Rhythmus und Textur. Näher als hier sollte Mike Oldfield Philip Glass und Steve Reich nicht mehr kommen. Jedes Stück der Suite wird von einem äußerst simplen Hauptmotiv eingeleitet, dieses Motiv wird häufig über mehrere Minuten sequentiell variiert. Die Musik ist repetitiv und manchmal fast schon statisch, wodurch nicht mehr die melodische Progression sondern andere Faktoren wie z.B. das Spiel mit der Harmonie in den Vordergrund treten. Für theoretisch interessierte Hörer stellt "Incantations" sicherlich Oldfields spannendstes Album dar, führt es doch den unverkennbaren Oldfield-Stil mit Elementen der Neuen Musik zusammen...


Hier endet der erste Teil meiner Oldfield-Retrospektive. Der nächste Teil wird sich der Hinwendung zum Pop Ende der 70er und dem schleichenden Abstieg währender der 80er widmen. Zum Abschluss dieses Parts noch ein wenig graphisches Bonusmaterial: