Montag, 22. Juli 2013

Top 100: 60 - 51

Halbzeit, Baby! Heute mit Texten unterschiedlicher Länge. Weil ich nicht nur ein Pferd bin.

60 Serge Gainsbourg - Histoire de Melody Nelson (1972)
Serge Gainsbourg konnte viele Dinge: Dichten, komponieren, schauspielern, rauchen, saufen, vögeln, singen...na gut, letzteres vielleicht nicht ganz so besonders. Aber auch ein Dylan ist nicht wegen seiner virtuosen Sangeskünste berühmt geworden, sondern ob seiner Fähigkeiten als Texter und Songwriter. Ganz ähnlich verhält es sich bei dem französischen Chansonnier: Sofern man des Französischen mächtig ist (bzw. sich Übersetzungen besorgt), merkt man schnell, welch begabter Sprachkünstler Gainsbourg gewesen ist. Musikalisch ist der Großteil seines frühen Oeuvres recht konventionell geraten, erst Anfang der Siebziger begann er mit chanson-fremden Klängen zu liebäugeln. Das Konzeptalbum "Histoire de Melody Nelson", welches von einer unmöglichen Liebe erzählt, weist deutliche Soul- und Funk-Einflüsse auf. Das eigentliche Highlight dieses kurzen, aber ungemein abgezockten Albums sind aber die Streicherarrangements. Schlicht majestätisch.


59 Amplifier - The Octopus (2011)
"Majestätisch" ist ein gutes Stichwort. Die britische Band Amplifier versucht sich seit über einem Jahrzehnt daran, die Grenzen des Majestätischen neu auszuloten. Spacerock ist das, was die Mannen rund um Effektbrettfetischist Sel Balamir fabrizieren. Kaum eine Kapelle verknüpft zügellosen Größenwahn so nonchalant mit der puren Lust am Lärm. Scheißegal, ob ein Song elf Minuten dauert - wenn der Groove es will, dann muss es eben so sein. Und so übertreiben sie, maßlos. Gebirge aus Schall und Wahn werden aufgeschichtet und genüsslich per Feedbackattacke zum Einsturz gebracht. Überkandidelt mag man das finden, gerade wenn man sich "The Octopus" in Gänze anhört. 16 Songs, zwei Stunden Spielzeit. Keine Gefangenen, aber auch keine Zweifel.

58 Soap&Skin - Lovetune for vacuum (2009)
Ich möchte nie wieder jung sein. All die unverdauten Ängste und Neurosen, die plötzlich hervorbrechen, und einem den Schlaf rauben. Die ganze Wut, die ganze Trauer. Der Drahtseilakt zwischen Manie und Depression, dessen man irgendwann überdrüssig wird. Das Sich-Hingeben, wenn man schließlich abstürzt, und dem Boden entgegenrast. Die tief empfundene Zufriedenheit, die sich während des Aufschlags einstellt. Ich möchte nie wieder jung sein, aber ich bin froh, dass ich es einst war.

57 Led Zeppelin - IV (1971)
Es ist immer noch erstaunlich in welch kurzer Zeit die ersten vier Led Zeppelin-Alben enstanden sind. Nicht einmal drei Jahre haben Page, Plant, Bonham und Jones für sie gebraucht. Und jedes dieser Alben ist ein verdammter Klassiker. Die Basis des Zeppelin-Sounds bildete von Anfang an der Blues, viele der Bandklassiker sind nichts anderes als Neuinterpretationen unverwüstlicher Bluesstandards.Während auf den ersten beiden LPs diese Einflüsse noch sehr deutlich hervortraten, boten "III" und "IV" ein differenzierteres Klangbild. Aber was rede ich, ihr seid sowieso nur wegen "Stairway to Heaven" da. Dabei ist dieser totgenudelte Schlager zwar sicherlich ein fantastischer Song, aber bei weitem nicht der Höhepunkt auf "IV". Denn der nennt sich "When the levee breaks", besitzt DEN Schlagzeugsound und klingt selbst im Jahre 2013 futuristisch.

56 The Jimi Hendrix Experience - Electric Ladyland (1968)
Mit dem Jimi wurde ich lange Zeit nicht so recht warm. Klar, Gitarre spielen konnte der Mann wie kein Zweiter. Aber viele seiner Songs wollten sich mir nicht recht erschließen, gerade die teils ausufernden Improvisationselemente fand ich immer recht ermüdend. Bis ich "Electric Ladyland" für mich entdeckte. Natürlich wird auch hier soliert bis die Stratocaster Feuer fängt, aber es finden sich auch zahlreiche kompakte Songs auf dem Doppelalbum, die beweisen, dass Hendrix nicht nur ein begnadeter Instrumentalist, sondern auch ein formidabler Songwriter gewesen ist. Der Mann hatte den Blues, der Mann hatte Soul. 

55 Placebo - Without you I'm nothing (1998)
"Pure Morning" ist Euphorie. Die göttlichste Form des Sus-Akkordes. Das Rauschen nach dem Rausch. Was folgt, sind Gassenhauer, die um die Jahrtausendwende sämtliche Indiediscos fest im Griff hielten, allen voran natürlich das latent penetrante "Every you, every me". Aber nicht die scheppernden Postpunkhymnen sind das, was Placebo in ihrer Frühphase so groß machten, es sind die Balladen. Lieder wie "The crawl" oder "My sweet prince", zappenduster, tieftraurig und definitiv nichts für depressive Heranwachsende. Aber die hören bekanntlich nicht auf besserwisserische Autoritäten und zelebrieren wider besseren Wissens ihre teenage angst beim Genuss suizidauslösenden Liedguts.


54 Massive Attack - Mezzanine (1998)
Gute Opener erkennt man daran, dass sie binnen weniger Minuten die Stimmung eines ganzen Albums einfangen. Musterbeispiel: "Angel" vom dritten Massive Attack-Album "Mezzanine". Hier ist schon nach wenigen Takten klar, was die Stunde geschlagen hat. Es ist wieder einmal finster in der großen Stadt, und die Menschen wollen oder können natürlich nicht schlafen. Vom Sonnenaufgang spricht niemand, es gilt, der Dämmerung davonzutanzen. Kaum eine Platte der Neunziger hat so einen Flow wie "Mezzanine". Und kaum ein Album kann man so herrlich im "infinite repeat" genießen - und das nicht nur wegen der die Seiten beschließenden "exchanges". "Mezzanine" pulsiert, es knistert - und es ist trotz der Tatsache, dass die großen Hits (allen voran natürlich "Teardrop") in Film und Werbung omnipräsent sind, nicht kaputtzukriegen.


53 Peter Gabriel - Up (2002)
Diese Liste betreffend verrate ich schon jetzt ein Geheimnis: Es wird kein einziges Album von Genesis enthalten sein. Dafür gibt es nun also "Up", das letzte richtige Soloalbum von Peter Gabriel. Der Peter hat nicht nur einen ganzen Batzen Geld, sondern auch jede Menge Zeit. Deshalb veröffentlicht er nur ca. alle acht Jahre eine Platte. Nach den Megasellern "So" (1984) und "Us" (1992) folgte daher fast turnusgemäß bereits im Jahre 2002 "Up". (Die "Milennium Show" zählt nicht.) Es wäre gelogen, wenn man behauptete "Up" würde spontan klingen. Man hört dem Ding an, dass Gabriel jahrelang daran herumgetüftelt hat. Kein noch so kleines Detail wurde hier dem Zufall überlassen.  Der Qualität der Lieder hat der Perfektionismus jedoch nichts anhaben können. Besonders das zerrissene "Darkness" und das himmlische "I Grieve" ("The news that truly shocks is the empty empty page") ragen heraus.


52 Bright Eyes - I'm wide awake it's morning (2005)
Wenn mir jemand mit 16 gesagt hätte, dass ich eines Tages ein Country-, bzw. Folkalbum abgöttisch lieben würde, hätte ich ihn oder sie für verrückt erklärt. Musik muss doch verzerrt und laut sein! Glücklicherweise erkannte ich meinen Fehler recht schnell. 2002 entdeckte ich Conor Oberst (und damit seine Band "Bright Eyes") für mich und meine trüben Sinne, und ich schloss v.a. das orchestrale "Lifted" ins Herz. Drei Jahre danach war ich ein wenig erwachsener geworden, und auch Oberst schien sich ein wenig besser im Griff zu haben. "I'm wide awake it's morning" ist ruhiger, ausgeglichener als die frühen Bright Eyes-Platten. Soundtechnisch aufs nötigste reduziert, erzählt Conor aus dem Leben in den US of A, post 9/11. Zehn Lieder, zehn Strohhalme. "We are nowhere, and it's now" lautet die Erkenntnis. Hoffnung keimt im Zwischenmenschlichen, und manifestiert sich in einem der schönsten Liebeslieder dieser Welt: "First day of my life". Doch auch dieses Glück ist nicht von Dauer, und die Verzweiflung obsiegt. Die letzten drei Songs ("Land locked blues", "Poison Oak" und "Road to joy") reißen Löcher ins Leben. 

"The end of paralysis
I was a statuette
Now I'm drunk as hell on a piano bench
And when I press the keys
It all gets reversed
The sound of loneliness makes me happier."


51 The Beatles - The White Album (1968)
Die Beatles sind ein Wunder. Was diese Band in gerade einmal acht Jahren vollbracht hat, macht immer noch sprachlos. Sie nahmen die Welt im Sturm mit harmlosen (aber genialen) Liebesliedchen, nur um dann binnen kürzester Zeit die Popmusik derart auf den Kopf zu stellen, dass man ihren Einfluss bis heute hören kann. 1968 hatte die Band indes ihre Hochphase, welche von 1965 bis 1967 gewährt hatte, hinter sich gelassen und war im Begriff sich in ihre Bestandteile zu zerlegen. Die vier grundverschiedenen Individuen waren flügge geworden und verfolgten mit Nachdruck ihre eigenen künstlerischen Ambitionen, was sich v.a. im Verhältnis von McCartney und Lennon niederschlug. Dass aber selbst sich streitende Beatles besser sind als der Rest, beweist das "weiße Album". 

"While my guitar gently weeps" ist eines jener Lieder, bei denen man sich fragt, wie zur Hölle ein Song so perfekt arrangiert sein kann. Und dann diese Lennon-Stücke: Das zärtliche "Dear Prudence", das herrlich kaputte "Happiness is a warm gun" und das den Indierock späterer Jahrzehnte vorwegnehmende "I'm so tired" gehören zu den besten Stücken, die Lennon jemals verfasst hat. Selbst McCartney, der in der späten Beatlesphase eher durch grässliche Kinderlieder aufgefallen ist, raffte sich noch einmal zu Großtaten auf, "Martha my dear" ist z.B. eine federleicht daherhüpfende Hommage an die Musik der 30er und 40er-Jahre. Doch wo Licht ist, muss auch Schatten sein (Phrasenschwein, ick hör dir scheppern): Über die Klangcollage "Revolution 9" kann man streiten; als Statement mag sie funktionieren, im Kontext des Albums wirkt sie jedoch wie ein Fremdkörper. Und auch Songs wie "Why don't we just do it in the road" oder "Piggies" wären als B-Seiten wohl besser aufgehoben gewesen. Der schiere Abwechslungsreichtum des Albums lässt einen solche Ausrutscher aber relativ schnell wieder vergessen.

Ab nächster Woche gibts dann immer fünf Alben je Update. Schönes Weiterschwitzen.

Samstag, 6. Juli 2013

Kanye West - Yeezus (2013)

 8/10

Die Hypemaschine läuft auf Hochtouren. Alle einschlägigen Musikwebsites werfen mit Höchstwertungen um sich, das Feuilleton gleicht einem aufgescheuchten Bienenschwarm und sogar Onkel Lou kommt aus seinem Loch gekrochen, da er alles voll super findet. Schuld an dem Aufruhr ist ein bescheidener, mittlerweile nicht mehr ganz so junger Mann aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Gut, das mit dem bescheiden war gelogen. Das mit den unbegrenzten Möglichkeiten wohl auch, aber dazu später mehr.

Die Rede ist natürlich von Kanye West, der sich selbst ziemlich okay findet und auch nicht müde wird, dies der Welt mitzuteilen. Wenn er nicht gerade den Großkotz heraushängen lässt, oder US-Präsidenten beschimpft, nimmt West Platten auf. Und was für welche! HipHop alter Schule ist ihm schon seit Jahren zu langweilig, deshalb experimentiert er mit allen möglichen Genres, mal kaum („808s and Heartbeats“) mal sehr („My beautiful dark twisted fantasy“) überzeugend. Man kann ihm ja vieles vorwerfen, mangelnden künstlerischen Mut aber sicherlich nicht. West wagt viel, gerade in musikalischer Hinsicht. Und wenn er damit kolossal auf die Schnauze fliegt, steht er wieder auf und tut so als wäre nichts gewesen - Grammys kriegt er ja sowieso jedes Mal.

Denn er ist schon lange nicht mehr der Rapper Kanye West, er ist der Trendsetter, der neue Mozart, die definitive Verbindung aus Cash- und Rhymeflow. Kanye war gestern, „Yeezus“ ist heute.
Ja, es gibt ein neues Kanye-Album, wider Erwarten enthält es tatsächlich Musik. Und da wir hier ja unter uns sind, gebe ich auch gleich freimütig zu, dass ich diese Musik ziemlich großartig finde. Zehn Lieder sind auf „Yeezus“, nach gerade einmal vierzig Minuten ist der Spaß auch schon wieder vorbei. Bedenkt man aber, wieviele Ideen, Stile und Brüche sich in diesen vierzig Minuten befinden, scheint die Länge angemessen. Viel mehr „Yeezus“ würde man schlicht nicht aushalten.

Denn Kanye ist auf 180, dieser Mann macht keine Gefangenen. Das Feuerwerk, das in den ersten vier Tracks abgebrannt wird, lässt olympische Siegerehrungen wie Silvesterabende in deutschen Reihenhaussiedlungen aussehen. „On sight“, der Opener, macht sofort klar, was die Stunde geschlagen hat. Der puristische Synthiebeat kratzt und faucht, und West spuckt seine Zeilen als ob der Teufel hinter ihm her wäre. Und plötzlich bricht der Song in der Mitte auseinander, ein heimelige Soulmelodie erschallt. Alles doch nicht so schlimm? Von wegen. Mit Macht drängen sich die an kaputte Gameboys erinnernden Klänge zurück in den Vordergrund. Das ist Post-Rock.

Das deutlich von Depeche Mode beeinflusste „Black Skinhead“ führt den Loudness War auf eine neue Eskalationsstufe. Und dann dieser Text: „I'm aware, I'm a wolf / soon as the moon hit / I'm aware, I'm a wolf / back out the tomb, bitch / black out the room, bitch.“ Und auch wenn der gute Kanye im Geschichtsunterricht nicht ganz so gut aufgepasst zu haben scheint („I keep it 300, like the Romans“), ist seine Botschaft unmissverständlich: Scheiß Rassismus, scheiß Doppelmoral. Dass er sich dabei auch wenig ans eigene Bein pinkelt, mag ihm wohl bewusst sein, einen Unterschied macht es nicht, denn Kanye... ist Gott.

„I am a god“ beginnt mit einem Schrei, bevor unheilverkündende Samples über den Hörer hereinbrechen und ein fies grummelnder Basssound, der Subwooferherstellern die Freudentränen in die Augen treiben dürfte, sich breitmacht. Düster brütet der Rhythmus, Kanye steigert sich Vers um Vers, bis auch dieser Song in seine Einzelteile zerbricht und nur Urschreie übrigbleiben. Gastsänger Justin Vernon verkündet: „Ain't no way I'm giving up, I'm a god.“ Wessen Gott ist West? Sein eigener? Vielleicht verarscht er uns auch einfach alle und spielt uns den großen Zampano nur vor. Künstlertum als Marketingstrategie.

Wenn er uns verarscht, dann allerdings auf allerhöchstem Niveau. Es mag diskutabel erscheinen, ob Wests politische Message tatsächlich mehr als bloßes Heischen um Aufmerksamkeit ist. Fest steht, dass West eine Message hat, vor allem zwischen den Zeilen. Das große Kind möchte beachtet werden, und deshalb spielt es mit dem Feuer. Deutlicher als während „New Slaves“ wird Yeezus nicht: „Y'all throwing contracts at me / you know that niggas can't read.“ Die Musik gibt den Rest: Spartanisch, monoton, teuflisch - HipHop schafft sich ab.

Nach diesen schweißtreibenden ersten vierzehn Minuten beruhigt sich die Stimmung ein wenig. „Hold my liquor“ erzählt von zügellosem Hedonismus und Kontrollverlust. („slightly scratched your Corolla / okay, I smashed your Corolla“) „You say you know me my nigga / but you just really know the old me“ lauten die letzten Zeilen des Refrains. Läuterung für Yeezus? Selbsterkenntnis gar? Man weiß es nicht. Was man weiß, ist dass dieser West ein unglaubliches Talent für Melodien und Arrangements besitzt. Das abschließende Gitarrensolo zieht einem den Boden unter den Füßen weg, so schön ist es, so sehr fällt es aus dem Rahmen.

Der Weg des Lebemannes führt schnurstracks in die Finsternis. Nachzuhören in dem völlig kaputten „I'm in it“, ein zerschossener Bastard aus Ragga und atonaler Elektronik, in dessen Verlauf Kanye auch vor kulinarischen Erkenntnissen nicht zurückschreckt. („eatin' asian pussy, all I need is sweet and sour sauce.“) West bringt den Referenzen-Overkill, er ist der Referenzen-Overkill. („uh, I go to sleep with a nightlight / my mind move like a tron bike / make a wheelie on the zeitgeist“)

West macht nicht nur den Wheelie, er dreht vollends ab. Der Folgesong „Blood on the leaves“ ist eine Mischung aus gepitchten Nina-Simone-Samples, martialischen Bläsern, Timbaland-Gedächtnis-Beats und dem autogetuntesten Gesang seit Eminems letzten Untaten. Klingt irre, ist irre, macht irre. Unter all dem Lärm und Getöse ruht eine zerbrechliche Klaviermelodie, wenige Akkorde reichen aus, um dem Song eine melancholische Grundstimmung zu verleihen, obwohl links und rechts die Hölle losgebrochen ist.

Nach so einem Höhepunkt ist es nur natürlich, dass die Spannungskurve ein wenig abfällt. „Guilt trip“ dümpelt ziemlich nichtssagend vorbei und „Send it up“ weiß zwar mit einigen hübschen Ideen (stumpfer Beat, Reggaegesang am Ende) zu punkten, an die radikal-spektakulären Eröffnungstracks kommt es aber nicht heran.

Abgeschlossen wird „Yeezus“ von dem versöhnlichen „Bound 2“, das nach all den elektronischen Geräuschmassakern wie ein Fremdkörper wirkt - und genau aus diesem Grunde den perfekten letzten Track abgibt. Die Kälte und der Wahn sind verschwunden, West erzählt auf einem geschmackvollen Soulgroove vom Zusammenfinden zweier Menschen, ohne viel Getue, sondern „straight to the point“.

Ist „Yeezus“ nun also wirklich ein Meisterwerk? Ja und nein. Im Internet bin ich auf die schöne Formulierung „es ist gleichzeitig unfassbar geil und unfassbar scheiße“ gestoßen, was der Wahrheit wohl am nächsten kommt. Gerade die erste Hälfte ist atemberaubend. Das Tempo, die abrupten Stilwechsel, die Sounds - alles in dieser Form noch nicht dagewesen, alles beeindruckend. Leider kann v.a das letzte Drittel mit der hohen Qualität des Restmaterials nicht ganz Schritt halten, auch wenn „Send it up“ und „Bound 2“ alles andere als schlechte Tracks sind. Auch ist Rick Rubins Produktion nicht immer über alle Zweifel erhaben. Die schiere Lautstärke vieler Tracks zerrt an den Nerven, das Clipping mag zwar ein bewusstes Stilmittel sein, gut klingen tut es nicht.

Die Neuerfindung des HipHop ist „Yeezus“ gewiss nicht, denn trotz aller musikalischen Grenzüberschreitungen bleibt Kanye West ein relativ biederer Rapper, der weder formal noch textlich besonders innovativ oder virtuos auftritt. Die Treffer, die er jedoch landet, erwischen die Richtigen.

Glücklicherweise ist das Album auf textlicher Ebene zu indifferent, als dass man ihm eine Intention andichten könnte. Brutal ist es, schrill, stellenweise richtig schmerzhaft. Relevant ist es definitv. Die unbegrenzten Möglichkeiten für die die USA einst standen, haben viel von ihrer einstigen Anziehungskraft verloren. Es geht bergab in „God's own country“ und „Yeezus“ ist die ideale Begleitmusik für die Abrissarbeiten.

Top 100: 70 - 61


70 Deep Purple - Made in Japan (1972)
Eigentlich mochte ich Deep Purple nie besonders - und das obwohl (oder weil?) während meiner Jugend ein guter Freund nicht müde wurde, in allen erdenklichen Lebenslagen Purple-Liedgut erschallen zu lassen. So kam ich nicht nur in Kontakt mit den allseits bekannten Evergreens der Kapelle, sondern erlebte z.B. das Ende einer durchzechten Nacht mit dem "Concerto for Group and Orchestra" in den Ohren. (in einem Kofferraum eines Audi 80, aber das ist eine andere Geschichte) Das Album, das mir nach all den Jahren die Band dann doch noch schmackhaft machen konnte, ist "Made in Japan", das im August 1972 während der Japan-Tournee von "DP" aufgenommen worden war. Was die Herren Gillan, Blackmore, Lord, Paice und Glover hier abliefern, kommt der Definition einer perfekt zusammenspielenden Band gefährlich nahe. In den besten Momenten rollt die Musik wie eine Lawine über den Hörer hinweg, das Schlagzeug wirbelt, die Orgel kreischt und Blackmores Gitarrenspiel und Gillans Gesang umgarnen einander wie (pompöse Metapher incoming) junge Liebende. Und so spielen sie sich in einen Rausch, katapultieren Songs wie "Highway Star" und "Child in Time" in ungeahnte Höhen und haben sogar die Muße für ein zehnminütiges Schlagzeugsolo, das zwar nicht besonders eindrucksvoll daherkommt, aber den sympathischen Größenwahn der Gruppe unterstreicht. Hier weiß eine Band verdammt genau, was sie kann.

69 The Knife - Shaking the habitual (2013)
Ich gebe zu, es ist ziemlich riskant, ein so neues Album in eine solche Liste zu packen, aber wenn es ein Album gibt, das mich in den letzten Monaten wirklich fasziniert und meinen musikalischen Horizont erweitert hat, dann "Shaking the habitual" des schwedischen Duos The Knife. Das, was man hier zu hören bekommt, sprengt gleichermaßen Geschmacksgrenzen und schlecht verkabelte Lautsprecher. Stellt euch vor, ihr säßet in einer Geisterbahn und jemand würde an euch eine Vivisektion mit einer Kettensäge durchführen. Stellt euch vor, Sonic Youth hätten die Gitarren durch Synthies ersetzt und Blixa Bargeld und The KLF zu einer Jam-Session geladen. Kranke Scheiße is happening. Hört euch "Full of fire" an, am besten auf Kopfhörern, nachts, im Wald. Spielt euren Kindern "Wrap your arms around me" vor, wenn ihr sie langfristig schädigen wollt. "Shaking the habitual" ist ebenso verkopft wie kaputt, es ist lang, furchteinflößend und stellenweise leider auch Wichsvorlage für frisch ausgenüchterte Feuilletonisten. ("Old dreams waiting to be realized"...) In jedem Falle ist es anders. Und willkommen.


68 Isis - Oceanic (2002)
Elf Minuten dauert "Weight", eines der besten Postrock-, bzw. Postmetal-Crescendi überhaupt. Elf Minuten, in denen man Takt um Takt tiefer in den Ozean hineingezogen wird. Es gibt kein zurück, am Ende wird und muss das Verderben stehen. Wenn es so klingt wie auf "Oceanic", sei es akzeptiert. Artwork, Arrangements, Konzept, Texte - hier greift ein Rädchen perfekt ins andere. Am Ende steht ein monolithisches Album über den Tod, die Einsamkeit und die Übermacht des Wassers.

67 Godspeed You! Black Emperor - F#A# (1997)
Die Schönheit des ewigen Dröhnens erschließt sich nur jenen, die sich von dem Geräusch einschließen lassen. Im Zentrum des Rauschens sitzt ein alter Mann, und er erzählt von einer Welt wie wir sie kennen. Lügnerisch wogen die Streicher im Wind, nichts ist passiert, nichts kann passieren. Alles scheint möglich. Mit geschlossenen Augen lauscht man den Klängen, die aus weiter Ferne erschallen. Das muss diese Erhabenheit sein, von der die Dichter einst so fasziniert waren. Ein Zug fährt vorbei, eine Melodie schält sich aus den Umgebungsgeräuschen, und plötzlich weiß man, wie die Antwort auf diese vermaledeite Frage klingen könnte... Es gibt wenige Alben, auf die Adjektive wie "groß" und "zeitlos" zutreffen, das Debüt der un(an)greifbaren Godspeed You! Black Emperor gehört definitiv diesem noblen Club an. (Zudem besitzt die CD-Version eines der besten Cover der Musikgeschichte.)


66 Alice in Chains - Dirt (1992)
Frei nach Peter Struck: Depression ist Mist. Nichts will, nichts kann, nichts geht. Und das, was man auf die Reihe bekommt, höhlt einen von innen heraus aus. Der ganzen Misere Ausdruck zu verleihen gelingt nur in wenigen lichten Momenten. Fällt die Sechs, der Mensch gleich mit. Alice in Chains-Frontmann Layne Staley war dem Fallen schon 1992 gefährlich nahe, so viel scheint gewiss. "Them Bones", "Down in a hole", "Sickman", "Hate to feel", die Liste der wenig optimistischen Songtitel ist lang. "Dirt" heißt das zweite Album von Staleys Band, und es könnte nicht passender benannt sein. Staley frisst Dreck, er wirft mit Dreck, er versinkt im Dreck. Wie Treibsand zieht einen die Musik in die Tiefen der menschlichen Psyche. Jerry Cantrells bleischwere Riffs harmonieren perfekt mit der rauhen Bluesstimme Staleys, und besonders der zweistimmige Gesang von Gitarrist und Sänger ist beängstigend intensiv.

65 dEUS - The ideal crash (1999)
Woran denkt man zuerst, wenn man "Belgien" hört? An einen König, an zwei sich streitende Landesteile, an Pommes Frites. Vielleicht noch an Radsportler und natürlich die EU, aber an Rockmusik? Eher weniger. Glücklicherweise hat das Land zumindest dEUS hervorgebracht. Nicht mit dem Stock im Arsch, sondern mit allerhand Liebe für die kleinen, schiefen Töne gehen die Mannen um das Multitalent Tom Barman zu Werke. "The Ideal Crash", der Band dritter Longplayer, ist wunderschöner Lärm. Hier wird nicht geschrien, das hat Barman gar nicht nötig. Spur für Spur werden hier vielstimmige Kunstwerke aus sich balgenden Gitarrenriffs, allerhand Geräuschen, Samples und spinnerten Details errichtet.


64 Aphex Twin - drukqs (2001)
So friedlich wie es beginnt, möchte man es sich gemütlich machen, einen schönen heißen Tee eingießen und an den Weihnachtsmann glauben. Da Richard D. James alias Aphex Twin allerdings den alten Slogan "Macht kaputt, was euch kaputt macht!" durch "Mach alles kaputt!" ersetzt hat, ist es mit der Ruhe schon nach wenigen Minuten vorbei. Breakbeats, die ihrem Namen alle Ehre machen, zappeln epileptisch von einer Hirnhälfte zur anderen, die Hektik, die sich breitmacht, essen Seele auf. Und kaum hat man sich damit abgefunden, den Eskapaden eines Wahnsinnigen zu lauschen, kehrt die Harmonie zurück: Klavierakkorde, behutsam, beinahe zärtlich...
Dass der Frieden nicht lange währen wird, ist klar. Dennoch sind unter ihrer Oberfläche selbst die krudesten Tracks auf "drukqs" extrem eingängig, all das Geklimper, Geklirre und Gefuchtel ist nur Textur für den kammermusikalischen Kern der Musik.

63 Tori Amos - From the choirgirl hotel (1998)
Lauscht man den neueren Alben der amerikanischen Songwriterin, sollte man ausreichend geschlafen haben. Die gepflegte Langeweile, die Tori spätestens seit "The beekeeper" verbreitet, macht müde - und betroffen. Dabei war sie in den Neunzigern mit Alben wie "Little earthquakes" und "Under the pink" zu einer der profiliertesten Musikerinnen geworden, jeder ihrer ersten fünf Longplayer hätte einen Platz in dieser Liste verdient. Warum ist nun also Amos fünfte Platte hier gelandet? Nun, "From the choirgirl hotel" stellt für mich das rundeste und ausgefeilteste Album der rothaarigen Sängerin dar. Während gerade ihre ersten Werke zwar unglaublich intensiv daherkamen, befanden sich auf ihnen auch stets einige nicht über den Skizzenstatus hinauskommende Stücke. Auf "Choirgirl hotel" zieht Tori alle Register, viele der Lieder sind bis ins kleinste Detail ausgearbeitete Musterbeispiele für meisterliches Songwriting. Intime Balladen wie "Northern lad" und "Jackie's strength" sorgen auch nach Jahren immer noch für Gänsehaut, noisige Ausbrüche, wie man sie in "i i e e e" und "She's your cocaine" hören kann, zeugen von der großen emotionalen Bandbreite, die Amos zu Songs zu verarbeiten vermag.

62 Ideal - dto. (1980)
Nein, Ideal gehören nicht zur "Neuen deutschen Welle", da können die F-Promis, die in Sendungen wie der "ultimativen Chart-Show" ihren verschimmelten Senf zum Besten geben, noch so sehr darauf beharren. Natürlich sind Songs wie "Berlin" und "Blaue Augen" Hits, die selbst der unmusikalischste Zeitgenosse als solche erkennen kann, aber die Band um Annette Humpe, die man für "Ich & Ich" ins Dschungelcamp verfrachten sollte, hatte viel mehr zu bieten als die oben genannten Gassenhauer. Irgendwo zwischen New Wave, Postpunk, Pop und Schlager sind die Lieder auf "Ideal" zu verorten, wobei die ironisch-boshaften Texte für die nötige Würze sorgen. Und so liefert die Band Beiträge zur Neiddebatte ("Sekt und Grappa saufen mit von Hohenstaufen - alles ohne mich! Das ist gemein, so gemein, hundsgemein."), gibt sich dem Hedonismus hin ("Sex und Geld, Sex und Geld, haben haben haben haben"), und berichtet von der Unvereinbarkeit der bürgerlichen Zweierbeziehung mit Post-68er-Gedankengut ("Du schläfst mit meiner Freundin und sagst, das muss ich verstehen - die monogamen Zeiten sind vorbei."). Alles nicht ohne gewissen Fremdschämfaktor, aber stets charmant arrogant.


61 Heather Nova - Oyster (1994)
Das, was ich oben über Tori Amos geschrieben habe, trifft noch viel stärker auf Heather Nova zu. Auch diese Dame begann ihre Karriere vielversprechend, nach zwei guten und einen passablen Album folgte allerdings ein jäher Absturz, der die von den Bermudas stammende Sängerin sogar in die Klauen von Bryan Adams führen sollte. 1994 war Novas Welt noch nicht in Ordnung, was man glücklicherweise auf "Oyster" hören kann. Hier wird nicht gekuschelt, hier wird verdammt noch mal gelitten. Und ja, sie singt sirenenhaft, man höre das spukig-schöne "Islands". Auch textlich hatte Heather damals noch mehr in petto als Binsenweisheiten und Naturromantik. Bildgewaltig besingt sie die Schattenseiten des Lebens und gibt sich verletzlich. ("Heal", "Sugar") Und dann gibt es da noch diesen einen Moment in "Light Years", diese wenigen Sekunden, in denen die Sängerin ihre Stimme in scheibensprengende Höhen prügelt, während die Musik unaufhaltsam dem Abgrund entgegentaumelt. Oh Heather, warum hast du uns verlassen.