Montag, 22. Juli 2013

Top 100: 60 - 51

Halbzeit, Baby! Heute mit Texten unterschiedlicher Länge. Weil ich nicht nur ein Pferd bin.

60 Serge Gainsbourg - Histoire de Melody Nelson (1972)
Serge Gainsbourg konnte viele Dinge: Dichten, komponieren, schauspielern, rauchen, saufen, vögeln, singen...na gut, letzteres vielleicht nicht ganz so besonders. Aber auch ein Dylan ist nicht wegen seiner virtuosen Sangeskünste berühmt geworden, sondern ob seiner Fähigkeiten als Texter und Songwriter. Ganz ähnlich verhält es sich bei dem französischen Chansonnier: Sofern man des Französischen mächtig ist (bzw. sich Übersetzungen besorgt), merkt man schnell, welch begabter Sprachkünstler Gainsbourg gewesen ist. Musikalisch ist der Großteil seines frühen Oeuvres recht konventionell geraten, erst Anfang der Siebziger begann er mit chanson-fremden Klängen zu liebäugeln. Das Konzeptalbum "Histoire de Melody Nelson", welches von einer unmöglichen Liebe erzählt, weist deutliche Soul- und Funk-Einflüsse auf. Das eigentliche Highlight dieses kurzen, aber ungemein abgezockten Albums sind aber die Streicherarrangements. Schlicht majestätisch.


59 Amplifier - The Octopus (2011)
"Majestätisch" ist ein gutes Stichwort. Die britische Band Amplifier versucht sich seit über einem Jahrzehnt daran, die Grenzen des Majestätischen neu auszuloten. Spacerock ist das, was die Mannen rund um Effektbrettfetischist Sel Balamir fabrizieren. Kaum eine Kapelle verknüpft zügellosen Größenwahn so nonchalant mit der puren Lust am Lärm. Scheißegal, ob ein Song elf Minuten dauert - wenn der Groove es will, dann muss es eben so sein. Und so übertreiben sie, maßlos. Gebirge aus Schall und Wahn werden aufgeschichtet und genüsslich per Feedbackattacke zum Einsturz gebracht. Überkandidelt mag man das finden, gerade wenn man sich "The Octopus" in Gänze anhört. 16 Songs, zwei Stunden Spielzeit. Keine Gefangenen, aber auch keine Zweifel.

58 Soap&Skin - Lovetune for vacuum (2009)
Ich möchte nie wieder jung sein. All die unverdauten Ängste und Neurosen, die plötzlich hervorbrechen, und einem den Schlaf rauben. Die ganze Wut, die ganze Trauer. Der Drahtseilakt zwischen Manie und Depression, dessen man irgendwann überdrüssig wird. Das Sich-Hingeben, wenn man schließlich abstürzt, und dem Boden entgegenrast. Die tief empfundene Zufriedenheit, die sich während des Aufschlags einstellt. Ich möchte nie wieder jung sein, aber ich bin froh, dass ich es einst war.

57 Led Zeppelin - IV (1971)
Es ist immer noch erstaunlich in welch kurzer Zeit die ersten vier Led Zeppelin-Alben enstanden sind. Nicht einmal drei Jahre haben Page, Plant, Bonham und Jones für sie gebraucht. Und jedes dieser Alben ist ein verdammter Klassiker. Die Basis des Zeppelin-Sounds bildete von Anfang an der Blues, viele der Bandklassiker sind nichts anderes als Neuinterpretationen unverwüstlicher Bluesstandards.Während auf den ersten beiden LPs diese Einflüsse noch sehr deutlich hervortraten, boten "III" und "IV" ein differenzierteres Klangbild. Aber was rede ich, ihr seid sowieso nur wegen "Stairway to Heaven" da. Dabei ist dieser totgenudelte Schlager zwar sicherlich ein fantastischer Song, aber bei weitem nicht der Höhepunkt auf "IV". Denn der nennt sich "When the levee breaks", besitzt DEN Schlagzeugsound und klingt selbst im Jahre 2013 futuristisch.

56 The Jimi Hendrix Experience - Electric Ladyland (1968)
Mit dem Jimi wurde ich lange Zeit nicht so recht warm. Klar, Gitarre spielen konnte der Mann wie kein Zweiter. Aber viele seiner Songs wollten sich mir nicht recht erschließen, gerade die teils ausufernden Improvisationselemente fand ich immer recht ermüdend. Bis ich "Electric Ladyland" für mich entdeckte. Natürlich wird auch hier soliert bis die Stratocaster Feuer fängt, aber es finden sich auch zahlreiche kompakte Songs auf dem Doppelalbum, die beweisen, dass Hendrix nicht nur ein begnadeter Instrumentalist, sondern auch ein formidabler Songwriter gewesen ist. Der Mann hatte den Blues, der Mann hatte Soul. 

55 Placebo - Without you I'm nothing (1998)
"Pure Morning" ist Euphorie. Die göttlichste Form des Sus-Akkordes. Das Rauschen nach dem Rausch. Was folgt, sind Gassenhauer, die um die Jahrtausendwende sämtliche Indiediscos fest im Griff hielten, allen voran natürlich das latent penetrante "Every you, every me". Aber nicht die scheppernden Postpunkhymnen sind das, was Placebo in ihrer Frühphase so groß machten, es sind die Balladen. Lieder wie "The crawl" oder "My sweet prince", zappenduster, tieftraurig und definitiv nichts für depressive Heranwachsende. Aber die hören bekanntlich nicht auf besserwisserische Autoritäten und zelebrieren wider besseren Wissens ihre teenage angst beim Genuss suizidauslösenden Liedguts.


54 Massive Attack - Mezzanine (1998)
Gute Opener erkennt man daran, dass sie binnen weniger Minuten die Stimmung eines ganzen Albums einfangen. Musterbeispiel: "Angel" vom dritten Massive Attack-Album "Mezzanine". Hier ist schon nach wenigen Takten klar, was die Stunde geschlagen hat. Es ist wieder einmal finster in der großen Stadt, und die Menschen wollen oder können natürlich nicht schlafen. Vom Sonnenaufgang spricht niemand, es gilt, der Dämmerung davonzutanzen. Kaum eine Platte der Neunziger hat so einen Flow wie "Mezzanine". Und kaum ein Album kann man so herrlich im "infinite repeat" genießen - und das nicht nur wegen der die Seiten beschließenden "exchanges". "Mezzanine" pulsiert, es knistert - und es ist trotz der Tatsache, dass die großen Hits (allen voran natürlich "Teardrop") in Film und Werbung omnipräsent sind, nicht kaputtzukriegen.


53 Peter Gabriel - Up (2002)
Diese Liste betreffend verrate ich schon jetzt ein Geheimnis: Es wird kein einziges Album von Genesis enthalten sein. Dafür gibt es nun also "Up", das letzte richtige Soloalbum von Peter Gabriel. Der Peter hat nicht nur einen ganzen Batzen Geld, sondern auch jede Menge Zeit. Deshalb veröffentlicht er nur ca. alle acht Jahre eine Platte. Nach den Megasellern "So" (1984) und "Us" (1992) folgte daher fast turnusgemäß bereits im Jahre 2002 "Up". (Die "Milennium Show" zählt nicht.) Es wäre gelogen, wenn man behauptete "Up" würde spontan klingen. Man hört dem Ding an, dass Gabriel jahrelang daran herumgetüftelt hat. Kein noch so kleines Detail wurde hier dem Zufall überlassen.  Der Qualität der Lieder hat der Perfektionismus jedoch nichts anhaben können. Besonders das zerrissene "Darkness" und das himmlische "I Grieve" ("The news that truly shocks is the empty empty page") ragen heraus.


52 Bright Eyes - I'm wide awake it's morning (2005)
Wenn mir jemand mit 16 gesagt hätte, dass ich eines Tages ein Country-, bzw. Folkalbum abgöttisch lieben würde, hätte ich ihn oder sie für verrückt erklärt. Musik muss doch verzerrt und laut sein! Glücklicherweise erkannte ich meinen Fehler recht schnell. 2002 entdeckte ich Conor Oberst (und damit seine Band "Bright Eyes") für mich und meine trüben Sinne, und ich schloss v.a. das orchestrale "Lifted" ins Herz. Drei Jahre danach war ich ein wenig erwachsener geworden, und auch Oberst schien sich ein wenig besser im Griff zu haben. "I'm wide awake it's morning" ist ruhiger, ausgeglichener als die frühen Bright Eyes-Platten. Soundtechnisch aufs nötigste reduziert, erzählt Conor aus dem Leben in den US of A, post 9/11. Zehn Lieder, zehn Strohhalme. "We are nowhere, and it's now" lautet die Erkenntnis. Hoffnung keimt im Zwischenmenschlichen, und manifestiert sich in einem der schönsten Liebeslieder dieser Welt: "First day of my life". Doch auch dieses Glück ist nicht von Dauer, und die Verzweiflung obsiegt. Die letzten drei Songs ("Land locked blues", "Poison Oak" und "Road to joy") reißen Löcher ins Leben. 

"The end of paralysis
I was a statuette
Now I'm drunk as hell on a piano bench
And when I press the keys
It all gets reversed
The sound of loneliness makes me happier."


51 The Beatles - The White Album (1968)
Die Beatles sind ein Wunder. Was diese Band in gerade einmal acht Jahren vollbracht hat, macht immer noch sprachlos. Sie nahmen die Welt im Sturm mit harmlosen (aber genialen) Liebesliedchen, nur um dann binnen kürzester Zeit die Popmusik derart auf den Kopf zu stellen, dass man ihren Einfluss bis heute hören kann. 1968 hatte die Band indes ihre Hochphase, welche von 1965 bis 1967 gewährt hatte, hinter sich gelassen und war im Begriff sich in ihre Bestandteile zu zerlegen. Die vier grundverschiedenen Individuen waren flügge geworden und verfolgten mit Nachdruck ihre eigenen künstlerischen Ambitionen, was sich v.a. im Verhältnis von McCartney und Lennon niederschlug. Dass aber selbst sich streitende Beatles besser sind als der Rest, beweist das "weiße Album". 

"While my guitar gently weeps" ist eines jener Lieder, bei denen man sich fragt, wie zur Hölle ein Song so perfekt arrangiert sein kann. Und dann diese Lennon-Stücke: Das zärtliche "Dear Prudence", das herrlich kaputte "Happiness is a warm gun" und das den Indierock späterer Jahrzehnte vorwegnehmende "I'm so tired" gehören zu den besten Stücken, die Lennon jemals verfasst hat. Selbst McCartney, der in der späten Beatlesphase eher durch grässliche Kinderlieder aufgefallen ist, raffte sich noch einmal zu Großtaten auf, "Martha my dear" ist z.B. eine federleicht daherhüpfende Hommage an die Musik der 30er und 40er-Jahre. Doch wo Licht ist, muss auch Schatten sein (Phrasenschwein, ick hör dir scheppern): Über die Klangcollage "Revolution 9" kann man streiten; als Statement mag sie funktionieren, im Kontext des Albums wirkt sie jedoch wie ein Fremdkörper. Und auch Songs wie "Why don't we just do it in the road" oder "Piggies" wären als B-Seiten wohl besser aufgehoben gewesen. Der schiere Abwechslungsreichtum des Albums lässt einen solche Ausrutscher aber relativ schnell wieder vergessen.

Ab nächster Woche gibts dann immer fünf Alben je Update. Schönes Weiterschwitzen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen