Montag, 27. Mai 2013

Debütalbum

Oh Gott, wie aufregend das ist! Das Ablösen der Schutzfolie, das Bestaunen der Hülle, schließlich das Einlegen der CD in den Player...große Erwartungen gehen Hand in Hand mit einer tief empfundenen Zufriedenheit. Das hier ist kein BRAVO Hits-Sampler, den man von Tante Elfriede geschenkt bekommen hat, sondern eine mühsam vom Taschengeld abgesparte Investition! Sekunden vergehen, das Abspielgerät zeigt Dauer und Titelzahl des Albums an. Zehn Tracks, verteilt auf ca. 40 Minuten Spielzeit. Nicht viel, aber allemal genug für mich - vor allem, da ich nur drei der zehn Lieder bereits aus dem Radio und durch MTV (ja, das gab es damals noch...) kenne.

Wir befinden uns im Jahr 1996. Helmut Kohl ist seit 30 Jahren Bundeskanzler und die deutsche Fußballnationalmannschaft hat trotz Berti Vogts die Europameisterschaft gewonnen. Die Charts werden von den letzten Überlebenden der Eurodance-Welle und Akronymen (CITA, BB, NSYNC, usw.) dominiert. Auf meinem Schreibtisch steht noch immer ein PC aus den Achtzigern, in meinem Kopf stellen sich die Weichen langsam aber unabwendbar auf "Pubertät".

Mein Finger wandert zum Play-Button. Das Booklet der CD habe ich bereits ausgebreitet, der erwachende Teenager in mir freut sich über das knallbunte Design und die netten Fotos der Künstlerinnen. Ein paar Sekunden später höre ich Schritte. Dann eine fröhliche Frauenstimme:

"Yo I'll tell you what I want what I really really want / so tell me what you want what you really really want"

Zig-a-zig-ah! Nein, ich schäme mich nicht. Die Experten unter euch haben gewiss schon erkannt, um welches Meisterwerk es sich bei meinem allerersten selbstgekauften Album handelte: Das Debüt der erfolgreichsten Girlgroup aller Zeiten, den Spice Girls.

Hört man das Album heute, fällt zuallererst auf, wie unglaublich schlecht der Sound gealtert ist. "Spice" klingt so sehr nach den Neunzigern, dass es durchaus als Blaupause für eine ganze Ära kommerzieller Popmusik dienen könnte. Funkige Popsongs, die niemandem wehtun, wechseln sich mit hübschen Balladen, die niemandem wehtun, ab. Der Sound wird von simplen Beats, prägnanten Streichern und Disco-Zitaten dominiert, in Verbindung mit den meist sehr eingängigen Melodien ergibt sich eine Mixtur, die auch auf musikalischer Ebene perfekt zum auf massive Geldanhäufung ausgerichteten Konzept der Band passt.

Ein Kassenschlager jagt den nächsten - nach dem oben zitierten Opener "Wannabe", dessen Video noch heute mit einem Schmunzeln angeschaut werden kann, folgen mit "Say you'll be there" und "2 become 1" direkt die nächsten Superhits. Ersteres klingt verdächtig nach "Wadde hadde dudde da?", letzteres lädt zum Gruscheln und Gruseln ein.

Im Vordergrund stehen selbstverständlich die Stimmen der fünf jungen Damen, wobei man fairerweise anmerken muss, dass eigentlich nur eine (Mel C) tatsächlich singen kann. Da beim Casting der Band aber sicherlich andere Interessen im Vordergrund standen, kann man geflissentlich über die eher dünnen Stimmchen der anderen Protagonistinnen hinweghören.

Außer den Singlehits gibt es wenig zu entdecken, was sicherlich auch daran liegt, dass die Hälfte aller Lieder als Single ausgekoppelt wurde. (Neben den bereits genannten Songs durften noch "Mama" und "Who do you think you are" die Charts entern.) Am ehesten ragt noch "Naked" aus dem Einheitsbrei heraus, ein moll-lastiger Track mit einer gar nicht mal so üblen Bridge.

Der Hype um die fünf Engländerinnen war seinerzeit beinahe grenzenlos. Während Teenies kreischend in Ohnmacht fielen, diskutierten ältere Mitmenschen darüber, ob das alles nun großer Blödsinn oder doch Zeichen eines neuen Frauenbildes sei. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo zwischen den Extremen: Die Band war in erster Linie ein der Zeit angepasster Marketingschachzug, irgendwelche tieferreichenden Interpretationen halte ich für arg an den Haaren herbeigezogen. Letzten Endes wurden immer noch die alten Mechanismen (hübsche Mädels singen hübsche Liedchen) bedient, auch wenn der Gestus, den die Künstlerinnen an den Tag legten, anders als bisher war.

Das Ende der Spice Girls kam gerade mal vier Jahre nach dem Durchbruch: Nachdem das zweite Album "Spiceworld" sowohl musikalisch als auch kommerziell halbwegs an den Erfolg des Debüts anknüpfen konnte, markierte bereits das dritte (ohne Geri Halliwell entstandene) Album "Forever" den Schwanengesang des Acts. Von den Solokarrieren der Damen ist leider bis auf das überraschend unterhaltsame Debütalbum von Melanie C. auch nicht viel hängengeblieben. (von der Hochzeit der Victoria Adams mit diesem englischen Fußballer mal abgesehen.)

Geblieben ist mir eine mittlerweile sehr verstaubte CD-Hülle und die Erkenntnis, dass ich Schlimmeres hätte kaufen können. "Spice" ist wie seine Zeit: Schön bunt, aber auch ziemlich inhaltsleer.

Sportfreunde Stiller - New York, Rio, Rosenheim (2013)

3/10
 
Bierselige Trunkenbolde liegen sich in den Armen und zelebrieren mit glasigen Augen die Abwesenheit ihres Verstandes, an dessen Stelle das Vaterland getreten ist. Der moderne Deutsche workt Fabrik und viewt public. Wir schreiben das Jahr 2006, es ist Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland und die Fanmeilen sind voller als Harald Juhnke es jemals sein konnte. 

Den Soundtrack zur kollektiven Glückseligkeit lieferten damals die Sportfreunde Stiller, eine Band, die anfangs nur ein kleines Ärgernis mit teils sogar recht charmanten Liedchen gewesen war, sich jedoch im Laufe weniger Jahre in Sachen Penetranz und Unerträglichkeit in Nena-Sphären katapultieren konnte. Nach Flachwerken wie "Burli", "You have to win Zweikampf" und "La Bum" schien es, als seien sie in der wohlverdienten Versenkung verschwunden - das Unplugged-Geröchel aus dem Jahr 2009 war eher noch Bestätigung als Widerlegung des langsamen Abstiegs der von Fans jovial "Sportis" gerufenen Berufsjugendlichen. 

Doch nun sind sie zurückgekehrt. Die Musikverweigerer, die Sprachmetzger. Peter Brugger, stimmgewaltig wie eh und je, möchte auch jenseits der 40 noch Teil einer Jugendbewegung sein und nölt seine per Reimlexikon entstandenen Texte derart kumpelhaft, dass man ihn auf einer Studentendemo aussetzen möchte.

Die Art und Weise, wie sich hier angebiedert wird, ist in ihrer Dreistigkeit fast schon bemitleidenswert. Genreübliche Gemeinplätze (den Moment genießen, das Leben nicht so ernst nehmen, gemeinsam durch dick und dünn gehen, usw.) werden Punkt für Punkt abgearbeitet, und da man sich selbst ja auch nicht so ganz ernst nimmt, gibts noch etwas Bierzeltbeschallung gratis oben drauf. ("Let's did it" ragt hier besonders heraus.)

Was kann man aber über die Musik sagen? Nicht viel. Es hat sich wenig geändert im Vereinsheim. Die Gitarren schrammeln und bratzen, der Bass erledigt unauffällig seine Arbeit und das Drumming ist minimalistisch und punktgenau wie eh und je. Besondere Komplexität sucht man auf "New York, Rio, Rosenheim" vergeblich - was an sich kein Problem wäre, wären da nicht Bruggers lyrische Ergüsse, die selbst die gelungeneren Instrumentals fernsehgartentauglich machen. 

Gewiss, ein großer Sänger war der Peter noch nie, und in früheren Zeiten konnte man ihm all die schiefen Töne noch einigermaßen verzeihen, da man ja selbst noch jünger und damit empfänglicher für simple Glückskeksbotschaften im Sprechsingsang war. Aber heute, 13 Jahre nach dem Debütalbum "So wie einst Real Madrid", funktioniert es einfach nicht mehr. Nahezu melodiefrei und erschreckend hölzern wird hier auf Schülerband-Niveau ins Leere geleiert. Selbst mit Galgenhumor kommt man nicht weit. 

Es wird interessant werden, ob die Band noch einmal an frühere Erfolge anknüpfen kann. Zeitgemäß klingen sie immer noch, aber es ist davon auszugehen, dass die Zielgruppen der Sportfreunde mittlerweile andere Künstler für die Studentenparty, bzw.Fanmeilenbeschallung bevorzugen. 

Abschließend noch ein Zitat aus dem Titelsong des Albums, das die ganze Misere auf den Punkt bringt:

"wir lieben unser Leben / das Gemeinsame in jedem / wer hat schon Bock auf Angst und Frust / wir haben darauf keine Lust"

SCHLAAAAAND.

Donnerstag, 16. Mai 2013

Mike Oldfield, oder: 40 Jahre Niedergang (Teil 3)

Die ersten beiden Teile dieser Serie berichteten euch vom Aufstieg und tiefen Fall des englischen Multiinstrumentalisten Mike Oldfield, dieser dritte Teil wird nun die Geschichte zu Ende erzählen, indem er Oldfields späte Jahre und dessen Weg in die völlige Irrelevanz nachzuzeichnen versucht.

 

Nachdem der Gitarrenvirtuose sich bereits Ende der Achtziger mit scheußlichen Machwerken wie "Earth Moving" gründlich zum Horst gemacht hatte, gab es wenig Hoffnung auf Besserung. Zu nachhaltig hatte Oldfield sein Ansehen beschädigt, als dass eine Rückkehr zu alten Stärken zu erwarten gewesen wäre. Zu allem Übel gesellte sich zur offenkundigen künstlerischen Krise des Musikers ein Konflikt mit dessen Label Virgin Records - Oldfield war sich wohl bewusst, dass er sich auf seinen letzten Alben weit unter Wert verkauft hatte, seine Plattenfirma drängte jedoch weiter auf kommerziell gut verwertbare Einheitsware (v.a. auf "Tubular Bells II"), wozu Mike allerdings (noch) nicht willig war.

So kam es, dass er im Jahre 1990 das Album "Amarok" aufnahm. "Amarok" ist ein großes "fuck you" an Virgin, da es aus einem einzigen, sechzigminütigem Track besteht, sodass Singleauskopplungen unmöglich waren. Die auf dem Cover abgedruckte "Gesundheitswarnung" ist ein weiteres Indiz dafür, dass Oldfield bewusst provozieren wollte:

„HEALTH WARNING – This record could be hazardous to the health of cloth-eared nincompoops. If you suffer from this condition, consult your Doctor immediately.“

Die Krönung des vertonten Ungehorsams stellte schließlich ein gegen Ende des Stücks versteckter Morsecode dar, der nach Entschlüsselung nichts anderes als "fuck off r b" bedeutet. (r und b stehen für die Initialen von Richard Branson, dem Chef des Virgin-Konzerns)

"Amarok" macht es einem nicht einfach. In schneller Folge werden Motive verschiedenster Couleur aneinandergereiht, die stilistische Bandbreite reicht von rasend schnellen Akustikgitarrenriffs über irische Volksweisen bis hin zu atonalen Lärmpassagen, bei denen u.a. Haushaltsgeräte und Spielzeuge zum Einsatz kommen. Zudem besitzt das Album eine immense Dynamik: Während manche Teile kaum hörbar aus den Boxen dringen, werden die Ohren des Hörers andernorts von schrillen Warntönen und Zischlauten traktiert.

Man muss also erstmal eine Menge Geduld mitbringen, um überhaupt einen Zugang zu diesem Monstrum zu finden. Trotz der offensichtlichen Bemühungen des Musikers, ein möglichst provokantes Stück Musik abzuliefern, sind die meisten Melodien auf "Amarok" aber dennoch äußerst einprägsam - die Hauptschwierigkeit bei der Erschließung der Platte ist die schiere Menge unterschiedlichster Stile, die hier zusammengeworfen werden. Kaum hat man sich mit einer Melodie angefreundet, wird sie von einem neuen Motiv gewaltsam hinweggefegt.

Hat man sich aber durch die ersten fünfundvierzig Minuten gekämpft, wird man mit einem der famostesten Enden aller Zeiten belohnt. Die lapidar mit "Africa I", "Africa II" und "Africa III" betitelten Schlussteile erinnern in Rhythmik und Melodieführung stark an "Ommadawn" - Oldfield deutete in einigen Interviews an, sich bewusst an seinem wohl besten Werk orientiert zu haben. Die Basis für "Africa" bildet ein monotoner Trommelrhythmus, in mehreren Wellenbewegungen wird das Hauptmotiv des Albums variiert und unterschiedlichen Auflösungen zugeführt. Zu Beginn des letzten Abschnitts des Finales erklingt eine an Margaret Thatcher angelehnte Frauenstimme, die folgendes verkündet:

"Hello everyone. I suppose you think that nothing much is happening at the moment. Ah-ha-ha-ha-ha. Well, that's what I want to talk to you all about; endings. Now, endings normally happen at the end. But as we all know, endings are just beginnings. You know, once these things really get started, it's jolly hard to stop them again..."

Die falsche Thatcher ist ein genialer Kunstgriff. Ihre Ansprache stellt den einzigen zusammenhängenden englischen Text des Albums dar, sie schiebt sich genau dann zwischen Hörer und Musik, als letztere endlich in nachvollziehbare Bahnen geraten scheint.

"Sondela uSomandla sukuma wena obengezela"

Und dann endet es, und wie es endet. Minutenlang baut sich ein letztes Mal Spannung auf, ein kaum zu bändigender afrikanischer Chor setzt immer wieder an, die Klimax-Melodie zu singen, ein letztes Mal atmet man auf - und wird dann der puren Euphorie der großen Coda aus den Latschen geblasen. Was in dieser letzten Minute von "Amarok" passiert, ist schwer in Worte zu kleiden. All die Spannung entlädt sich, all die nur unzureichend zu Ende gebrachten Versatzstücke sind vergessen. Wenn mich jemand nach einer Definition von Musik fragen würde, müsste ich ihm oder ihr dieses Finale furioso vorspielen. So klingen Glücksgefühle.

Das Finale

Wie bereits angedeutet, sind nicht alle Passagen auf "Amarok" so perfekt; es gibt Längen (v.a. zwischen der 35- und 40-Minuten-Marke), es gibt merkwürdige Übergänge, und manche Sprünge wollen sich auch nach dem fünfzigsten Hördurchgang nicht recht erschließen. Dennoch entdeckt man bei jedem Hören etwas Neues, sei es eine versteckte Flötenmelodie oder ein kleines Räuspern, das als Einleitung eines neuen Teils fungiert.

Woher Oldfield dieses Album geholt hat, ist ein Rätsel. Es ragt wie ein Monolith aus der ernüchternden Mittelmäßigkeit seines späteren Schaffens heraus. Aus heutiger Sicht wirkt "Amarok" wie ein aus der Zeit gefallenes, letztes Aufbäumen des Genies, das nicht einsehen will, dass seine beste Zeit lang vorbei ist.

Die Musik, die Mike Oldfield nach "Amarok" veröffentlicht hat, ist meist nichtssagend, häufig langweilig und in manchen Fällen schlicht schmerzverursachend. Nachdem Oldfields letztes Album für Virgin ("Heaven's open") ein poppiges Abschiedsgeschenk gewesen war, machte er sich im Jahr 1992 endlich daran, den lang erwarteten zweiten Teil von "Tubular Bells" aufzunehmen.

Und "Tubular Bells II" ist eine Katastrophe. Klinischer Sound, zahnlose Rhythmen, grässliche Chöre, nicht enden wollendes Geklimper. Gewiss mag es viele Fans geben, die vor Glück weinten, als ihre geliebten Röhrenglocken ein weiteres Mal erklangen, mich erfüllt schon der Gedanke an diese Enigma-Gedächtnis-Mucke mit Abscheu. Geld dürfte Oldfield mit "TB 2" allerdings sicher nicht zu wenig verdient haben.

Auch das folgende Album "The songs of distant earth" weiß nicht recht, wo es hinwill. Obwohl es einige hübsche Melodien beinhaltet, ertrinkt es im Ganzen doch in Easy Listening- und Ethno-Schmodder. Das relativ hohe Tempo, in dem Oldfield in den Neunzigern neue Alben auf den Markt warf, mag ein Indiz für seine fortwährende Suche nach neuen Ausdrucksformen sein, vielleicht symbolisiert es aber auch nur die Ratlosigkeit, die von ihm Besitz ergriffen hatte.

"Voyager" aus dem Jahre 1996 hat nichts mit Star Trek zu tun, sondern stellt Mikes persönliche Verbeugung vor den stets seiner Musik innewohnenden irischen Einflüssen dar. Der Großteil der Stücke plätschert relativ harmlos vor sich hin, auch wenn sich hin und wieder recht nette Melodien und Arrangements ausmachen lassen. ("Hero", "Wild goose flaps its wings") Wirklich herausragend ist das das Album beschließende "Mont St Michel", eine dreizehnminütige Orchesterkomposition, die gekonnt folkloristische Melodik in ein opulentes Gewand kleidet. 


Was danach folgte, stellt für mich den eigentlichen Tiefpunkt im Werk Mike Oldfields dar. 1998 erschien "Tubular Bells III", und schon die Tatsache, dass er schon wieder auf sein Trademark-Album zurückgriff, verrät viel. War der zweite Teil noch belangloses Gesummse, springt einem bereits im Intro der dritten Inkarnation der großen Glockenshow ein derart billiger Electrobeat entgegen, dass man meinen möchte, Oldfield hätte das Album mit dem Magix Music Maker produziert. Ein grauenhaft generischer Synthiesound jagt den nächsten, Dramatik und Dynamik sucht man auf "Tubular Bells III" vergeblich. Selbst die lichteren Momente der Platte eignen sich bestenfalls zur Beschallung einer Chill out Area in Lloret del Mar.

Dass er sich erfolgreich in eine Sackgasse manövriert hatte, schien auch dem nun schon sichtlich gealterten Herrn Oldfield aufgefallen zu sein, da er mit dem nur ein Jahr nach "TB3" erschienenen "Guitars" den Versuch unternahm, "zurück zu den Wurzeln" zu gehen. Nett gesagt ist "Guitars" doppelt so gut wie sein Vorgänger - ehrlich gesprochen ist es immer noch ganz schön mies. Ein erschütternd flach produziertes Nichts aus einfallslosen Gitarrenfragmenten und peinlichen Selbstzitaten.

Womit wir endlich im vergangenen Jahrzehnt angelangt wären. Die letzte Dekade des oldfield'schen Oeuvres ist von zwei Dingen geprägt: Überflüssigen Neuauflagen von...naja, ihr werdet es bereits ahnen, "Tubular Bells" und einer nicht nachvollziehbaren Begeisterung für Kaufhausbeschallung. Die Alben "Tr3s Lunas" und "Light + Shade" sind fürchterlich langatmige Einschlafhilfen, deren Genuss nur Menschen empfohlen werden kann, die gerne Heilsteine streicheln und ihre Wohnung nach Stilvorgaben der "Brigitte" einrichten. Die blanke Wut ergreift mich, wenn ich darüber nachdenke, welch faszinierende Musik dieser Mann einst zu erschaffen im Stande war. 

Oldfields bis dato finale Bankrotterklärung ist das orchestrale "Music of the Spheres" aus dem Jahr 2008. Gewiss, im Vergleich zu seinen unmittelbaren Vorgängern ist dieses mit dem chinesischen Starpianisten Lang Lang eingespielte Machwerk ein Lichtstreif am Horizont, gemessen an früheren Großtaten wirkt es jedoch wie ein lauwarmer Aufguss liegengebliebener Ideen. Zumindest kann man das Album gut beim Bügeln oder Staubsaugen hören, da es ebenso unaufdringlich wie lahmarschig aus den Boxen fließt.
Anders formuliert: Wenn Oldfield "Music of the Spheres" 1998 gemacht hätte, könnte ich ihm mehr abgewinnen, da es eventuell "Tubular Bells III" um ein Jahr nach hinten verschoben hätte.

Und nun? Nichts genaues weiß man nicht. Abgesehen von sporadischen Liveauftritten hat sich der Engländer in den letzten Jahren ziemlich rar gemacht. Dies mag nicht zuletzt dem Alter geschuldet sein - just heute feiert Mike nämlich seinen sechzigsten Geburtstag. Die Hoffnung auf eine letzte Großtat lebt noch immer, gerade Oldfield wäre angesichts seiner Verdienste ein unpeinliches Alterswerk zu gönnen.

Dass die Zeichen eher schlecht stehen, ist meine Sicht der Dinge. Glaubt mir, ich habe wirklich versucht, mir seine letzten Alben schönzuhören - es ging einfach nicht, auch wenn "Music of the Spheres" nicht gänzlich katastrophal geraten war.

Die vor kurzem erfolgte Veröffentlichung des Remixalbums "Tubular Beats" (sic!) verheißt schonmal nichts Gutes. Man wartet jede Sekunde auf HP Baxxter - und der würde die Qualität der Tracks anheben. Schlimm. Ganz schlimm.

Euch ist sicherlich aufgefallen, dass zwei Drittel dieses Textes aus ziemlich gemeinen Verrissen bestehen, und es schmerzt mich sehr, angesichts der Zuneigung, die ich für Oldfields große Alben verspüre, seitenlang auf den reichen Mann eingeprügelt zu haben. "Hergest Ridge", "Ommadawn" und "Amarok" sind Alben fürs Leben, alle anderen Platten vor "Crises" sind gut bis hervorragend. Der künstlerische Niedergang eines so talentierten Instrumentalisten und Komponisten ist schlicht traurig.

Hardcore-Fans werden mich wahrscheinlich für diesen Artikel mit Cocktailgläsern bewerfen, aber damit kann ich leben. Ich bin nicht dazu bereit, Oldfields Weg in irgend einer Weise schönzureden. Er mag sich beständig weiterentwickelt und verändert haben, jedoch ist für mich offensichtlich, dass es stetig bergab ging.

Womit wir wieder beim Anfang angelangt wären: "Wenn man denkt, es geht nicht mehr, kommt irgendwo ein Lichtlein her."

Man sollte dem Mike eine Flutlichtanlage schenken.

Ein wenig Tanzmusik aus besseren Zeiten zum Schluss:

Sonntag, 12. Mai 2013

Lebensjahre und Lieblingsalben

Hier eine kleine Liste meiner Lieblingsalben, nach Lebensjahren sortiert. The soundtrack of my life.

1998    depeche mode - songs of faith and devotion
Mein persönliches musikalisches Erweckungserlebnis.

1999    nirvana - in utero
Das perfekte Stück Musik für fröhliche Teenager.

2000    radiohead - kid a
Damals mein erstes Radiohead-Album. Anfangs war ich höchst irritiert, danach Fanboy bis aufs Blut.

2001    tool - lateralus
Zwar nicht so komplex wie manche behaupten, aber immer noch ein sehr gutes Album. Eröffnete mir den Weg zu rhythmisch vertrackterer Musik.

2002    qotsa - songs for the deaf
Das letzte wirklich relevante Rockalbum alter Schule. (Haha.)

2003    bright eyes - lifted
Liebe und Musik, in Musik, in meinem Leben.

2004    amplifier - dto.
Neuer Lebensabschnitt, neue Lieblingsband. Was für ein Feuerwerk!

2005    the mars volta - frances the mute
"Cassandra Gemini". 

2006    interpol - antics
Indiejunge studiert fleißig ins Nichts hinein und hört Indiemusik. In die Tonne kloppen sollte man ihn dafür.

2007    endoskopie - ivan cravchev
Ich habe in einem halben Jahr ca. 100 Beats gebaut, um danach ein Doppelalbum mit 40 Tracks aufzunehmen. Brainfuck deluxe. Eine wichtige Erfahrung und notwendige Auslotung meiner eigenen kreativen Grenzen.

2008    portishead - third
Symbolisiert meine damalige Lebensituation hervorragend: Trist, ein wenig wirr und trotzdem genau richtig so.

2009    nichts.
In diesem Jahr hörte ich fast keine Musik, sondern war mit anderen Dingen beschäftigt.

2010    soap&skin - lovetune for vacuum
Ein Album, das mich richtig geflasht hat. Die Lust an der Niedergeschlagenheit, die Erinnerung an vergangene Dunkelheiten.

2011    pj harvey - let england shake
Untrennbar verbunden mit persönlichen Erlebnissen. Der Soundtrack zufälliger Begegnungen.

2012    mike oldfield - ommadawn
Es muss ja nicht immer neu sein. "Ommadawn" begleitet mich schon sehr lange, aber erst im letzten Jahr wuchs es mir endgültig ans Herz. Ideal für lange Spaziergänge durch Naturen.

Samstag, 11. Mai 2013

KRACKER.TXT


Neulich im Supermarkt. Ich so beim Einkaufen, Milch, Brot, Wurst, was man eben so kauft, wenn man schlechte deutsche Comedians imitiert. Plötzlich Gitarre, ein sogenanntes Intro, dann eine knödelnde Männerstimme: "You don't know how you met me /
You don't know why / You can't turn around and say good bye..." Eine Drohung, ein Menetekel. Panik steigt in mir auf, als ich die lange Schlange an der Kasse sehe. Es gibt kein Entkommen. Ich wünsche mir einen Geisterfahrer, der das Lied unterbricht, doch nichts passiert. Ausgerechnet jetzt sind keine Untoten auf bayerischen Autobahnen unterwegs, ausgerechnet jetzt muss ich mich in diesem vermaledeiten Geschäft befinden.

Uncle Kracker, seines Zeichens One-Hit-Wonder und Vorbote der Apokalypse, ist zurückgekehrt. Er ist gekommen, um den kümmerlichen Rest meiner musikalischen Empfindsamkeit auszuräuchern, er ist hier, weil ich es wahrscheinlich nicht anders verdiene. Schreien möchte ich, weglaufen, aber ich kann es nicht. Die Wurst liegt auf dem Förderband, und Wurst lässt man nicht einfach liegen.

Als "Follow me" - so heißt der beschriebene Schlager nämlich - anno 2001 zum Hit wurde, konnte ich selbstverständlich noch nicht ahnen, dass der Song mich eines Tages an Rand des Wahnsinns treiben würde. Anfangs war alles ganz harmlos gewesen: ein weiterer, nichtssagender Radiosong eben, eine Redneck-Schnulze für Menschen, die Kuschelrock-CDs kaufen und Bon Jovi für einen harten Rocker halten, nichts, was mich persönlich tangieren müsste. Jung war ich damals. Und dumm erst!

Denn schon bald sollte sich herausstellen, dass Uncle Kracker (man beachte übrigens das ultracoole "K", das wahrscheinlich für "Kreationism" steht.) es auf mich abgesehen hatte. Oder war alles nur ein schrecklich dummer Zufall? Ich weiß es nicht, und ehrlich gesagt, möchte ich es auch gar nicht so genau wissen. Die Wunden, die ich gerade aufreiße, werden ohnehin nur sehr langsam wieder verheilen, von den wahrscheinlich zurückbleibenden Narben ganz zu schweigen.

"Follow me" ist der einzige Song, bei dem exakt sagen kann, wie oft ich ihn ab dem Zeitpunkt, als ich ihn eigentlich nicht mehr hören konnte, gehört habe. Mit der oben geschilderten Supermarktepisode sind es zum heutigen Tage 336 Mal.

So. Erstmal sacken lassen und dabei ein ungläubiges Gesicht machen. Wie konnte diese Zahl so groß werden? Nun, verrückt wie ich bin, habe ich meine KRACKER.TXT zur Hand und kann daher ein wenig Licht ins Dunkel bringen:

Allein zwischen 2001 und 2003 habe ich den Song 270 Mal erleiden müssen. Während obskurer Ferienjobs, auf Parties irgendwelcher Klassenkameraden, im Frühstücksradio, ja sogar bis in den Musikunterricht verfolgte mich diese verdammte Stück Tonschrott. Ich fing damals an, eine gewisse Paranoia zu entwickeln, und trotz einiger Versuche, verfänglichen Situationen aus dem Weg zu gehen, konnte ich dem Keksonkel nicht entrinnen. Kracker hier, Kracker da, Kracker in Amerika, würde Helge Schneider nun sagen.

Natürlich bin ich auch selbst an der ganzen Misere schuld. Hätte ich nicht eines Tages damit angefangen, über Uncle Kracker Buch zu führen, hätte sich das Lied wahrscheinlich nahtlos in die lange Reihe geflissentlich zu ignorierender Lärmbelästigungen (Rasenmäher, Klingeltöne, Ich & Ich, um einige zu nennen) eingereiht. Durch meine statistische Arbeit war mein Bewusstsein für "Follow me" allerdings immens geschärft worden, sodass ich beinahe wie ein Pawlowscher Hund reagierte, wenn des Onkels zarte Weise erschallte. Schon die ersten Töne des Gitarrenintros riefen idiosynkratische Reaktionen hervor, die eigentlich so liebreizende Stimme des Mannes gab mir dann jedes Mal den Rest. Kreissägen sind wie Mozart dagegen.

Zurück in die Gegenwart. Von "Follow me" redet heute außer mir gottlob keiner mehr, und die Wahrscheinlichkeit, von dem Lied attackiert zu werden, ist in den letzten Jahren natürlich auch stark gesunken. Ich bedanke mich daher bei allen Musikern, die nicht Uncle Kracker sind, dass sie nicht Uncle Kracker sind und gehe nun einkaufen. Hoffentlich laufen heute nur Xavier Naidoo und Phil Collins im Supermarkt. 

Falls ihr selbst eine KRACKER.TXT erstellen möchtet, habe ich hier nur für euch nochmal das Lied verlinkt. <3

Mittwoch, 1. Mai 2013

Kopf voraus ins Verderben

Vorwort: Die "Diskographik"-Rubrik beschäftigt sich nicht ausschließlich mit Künstlern, die mit den Jahren immer schlechtere Musik fabrizierten. Es ist bloßer Zufall, dass nach Mike Oldfield nun Goldfrapp bespracht werden.

Die älteren Herrschaften unter euch werden sich vielleicht noch erinnern: 2001 erschien "Felt Mountain", das Debütalbum des britischen Duos Goldfrapp. Von Kritikern in den Himmel gelobt, von den meisten Käufern verschmäht, von mir geliebt. "Felt Mountain" war ein Meisterwerk. Nicht nur offensichtliche Hits wie das böse "Human", oder das hymnische "Utopia", sondern auch Verrücktheiten wie das direkt aus dem Wolkenkuckucksheim stammende "Oompa Radar" machten das Album zu einer der wichtigsten Veröffentlichungen des Jahres. Goldfrapp waren anders, sie verbanden avantgardistische Arrangements und Instrumentierungen mit klassischen Songstrukturen, und erzeugten so eine von emotionaler Kälte und Entfremdung geprägte Atmosphäre. Und diese Stimme! Alison Goldfrapp hauchte, flüsterte, quiekte, schrie und ertrank... 


"Black Cherry", das zweite Album von Alison und Will, war zwar im Gegensatz zum Debüt lauter, schroffer und fickiger, (wer "Twist" oder "Strict Machine" gehört hat, weiß, was ich meine) aber keinen Deut schlechter als "Felt Mountain". Noch schien die Welt in Ordnung - ich habe die Band im Jahr 2003 live erlebt, und was sie damals trotz widriger Umstände (Soundprobleme, Festival, besoffenes Publikum) auf die Bühne zauberte, weckte große Hoffnungen. Lieblingsbands hat man ja nicht viele, und Goldfrapp schickten sich damals an, einen festen Platz in der wichtigsten Abteilung des Plattenregals zu sichern. 


Es folgte "Supernature". Schon als ich den Titel gelesen, und das Booklet gesehen hatte, schwante mir Übles. Das sah irgendwie eher wie das Cover eines Modemagazins aus. Natürlich hatte "Black Cherry" auch schon in Richtung Disco geschielt, aber das, was auf dem dritten Album passierte, war des Guten zu viel. Tracks wie "Ooh La la" und "Lovely 2 c u" konnte man sich noch schönsaufen, bzw. -tanzen, und Perlen wie "Ride on a white horse" machten das Album zumindest erträglich. Besonders in der zweiten Hälfte der Platte blieb einem jedoch nichts anderes übrig, als ratlos ins Leere zu starren. Tanzbare Nichtigkeiten, die teilweise direkt in die Banalität hineinstolperten. ("Koko", "Number One") Was war passiert? 


Ich hatte Goldfrapp im Prinzip zu den Akten gelegt. Zwei gute Alben, und dann gabs keines mehr.  Dachte ich zumindest - bis "Seventh Tree" im Frühjahr 2008 erschien. Anfangs freute ich mich über die Rückkehr zu den leisen Tönen, und Lieder wie das traurige "Clowns" und das verträumte "A & E" höre ich heute noch gern. Aber irgendetwas war  faul an "Seventh Tree", irgendetwas stimmte nicht. Während "Felt Mountain" wie aus einem Guss klang und es auch mal wagte, einen Blick über den Tellerrand zu blicken ("Deer Stop"), blieb das vierte Album merkwürdig steril und emotionslos. Das Feuer fehlte, die Faszination war erloschen.

Willkommen in der Gegenwart. Die ehemals elfenzarte Alison Goldfrapp sieht heute aus wie ein Lastwagen mit Federboa. Sie singt noch immer, und hat mit ihrem Kumpanen Will Gregory auch 2010 ein Album veröffentlicht. "Head First" heißt es, und es klingt so, als hätte jemand Disco Stu zuviel Kokain in den Drink gekippt. Ich habe mich ja schon einmal auf dieser Seite über das Album echauffiert, und möchte die Gelegenheit nutzen, es ein weiteres Mal zu tun. "Head First" möchte offenbar diejenigen befriedigen, die jedesmal, wenn jemand das grausige Wort "Retro" in den Kopf, äh Mund nimmt, kurz davor stehen, Nissan Multipla-ähnliche Orgasmen zu bekommen. Über das debile "Rocket" kann man sich ja noch freuen, und "Voicething" hat coole Stellen - aber der Rest? Was zur Hölle ist mit meiner einstigen Lieblingsband passiert? Was bezahlt man denen, damit sie solchen Unfug veröffentlichen? Haben die ihre Ohren verkauft?

Schauen wir uns mal das ganze Dilemma an. Goldfrapp haben sich stets verändert, friedensliebende Individuen würden sagen "weiterentwickelt". Ich habe Respekt vor Künstlern, die ihren Stil in Frage stellen und sich immer wieder neu orientieren. Goldfrapp haben sich durchaus entwickelt - nur in einer Art und Weise, die mir den Angstschweiß auf die Stirn treibt, wenn ich daran denke, dass sie in zwei Jahren wahrscheinlich das nächste Album veröffentlichen werden. Mit Coverversionen von Cyndi Lauper und Wham!. Oder bin doch einfach ich schuld? Deutete sich nicht schon ganz am Anfang der Karriere des Duos an, wohin die Reise gehen würde? Die Bonus CD von "Felt Mountain" enthält eine, freundlich formuliert, "interessante" Coverversion des 80er-Klassikers "Physical" - konnte man nicht da schon erahnen, dass Goldfrapp in einer Sackgasse gestartet waren?


Konnte man nicht. Debütalben decken selten sämtliche Facetten der künstlerischen Möglichkeiten eines Musikers ab. Dass Alison und Will den Mut hatten, das zu machen, worauf sie Bock hatten, muss man ihnen durchaus hoch anrechnen. Warum sie aber irgendwann aufgehört haben, sich Mühe zu geben, verstehe ich nicht. Eine Sängerin mit solch überragendem Talent und ein Arrangeur mit solcher Erfahrung und Virtuosität einigen sich also nach Jahren der Zusammenarbeit darauf, ab sofort nur noch Klingeltöne zu produzieren? Dei Mudda. War es, wie so oft, der Wunsch nach dem "kommerziellen Durchbruch"? Und wurde nicht einst kolportiert, dass auf "Felt Mountain" die Mehrheit des kreativen Inputs von Gregory kam, während auf den späteren Alben Alison das Ruder an sich gerissen hat? Dann wäre die Frau also schuld. Aber sie ist doch ein elfenzarter Lastwagen!

Man könnte einfach sagen: "Every story has to end". Es wäre wohl besser, wenn Alison Goldfrapp und Will Gregory dies beherzigen würden und ihr Glück im Logistikbereich suchen würden.

1. Nachwort: Die beiden auf der letztjährigen Singles-Compilation erschienenen neuen Songs ("Yellow Halo", "Melancholy Sky") lassen übrigens auf bessere Zeiten hoffen. Zumindest sind beide besser als das ganze vermaledeite "Head First"-Album.
2. Nachwort: Dieser Artikel entstand schon vor 2 Jahren, da sein bisheriger Aufenthaltsort (splibs.net) allerdings nicht mehr existiert, fand ich es angebracht, den Text in ein neues Wohnzimmer zu setzen. Möge er hier ein glücklicheres Dasein fristen.

Will.i.am - #Willpower (2013)

2/10

Das Fazit vorweg: Will.i.ams neues Album "#Willpower" ist Musik gewordenes Unterschichtenfernsehen. Der Soundtrack ungewollt schwangerer Mittelschülerinnen, alkoholkranker Dumpfbacken und tiefergelegter Discopumper. Schall, der vom Drama einer Kultur berichtet.

Es wäre aber zu simpel, das Album nun nach Strich und Faden zu verreißen. Zudem würde man damit einem großen Künstler unserer Zeit Unrecht tun.
Ich meine das durchaus ernst. Es gibt wenige Musiker, die es derart perfekt schaffen, den überwältigenden Stumpfsinn, der Mensch und Smartphone im Würgegriff hält, zu vertonen. "Let's get dumb" lautet das Motto!

Auch wenn der gute William in Liedchen wie "Ghetto Ghetto" nochmal den weltverbessernden Autotuner mimt, kann nichts darüber hinwegtäuschen, worum es hier eigentlich geht. "#Willpower" definiert den Begriff von "minimal music" neu. Für so wenig Musik wurde bis dato wahrscheinlich nur selten so viel Geld ausgegeben.

Was allein die illustren Features gekostet haben müssen! Justin Bieber ("oooh I'm alive, I'm alive, I'm alive and oooh, I can fly, I can fly, I can fly"), Britney Spears, Chris Brown, Miley Cyrus, Nicole Scherzinger...alle sind gekommen, um mit ihrem Talent die filigranen Kompositionen des Maestros zu veredeln.

Im Vergleich zu akustischen Folterinstrumenten wie "Great times are coming" wirken selbst die übelsten Eurodance-Stampfer aus den Neunzigern wie Kunstlieder von Franz Schubert. Es wubbelt und wobbelt, es basselt und hustlet, es hört nicht auf. "My chick got body, it shakes like jelly. Big tit, big booty, no belly." Komm, wir lassen uns erschießen. (Passend dazu tatsächlich der nächste Song: "Shoot me with your bullet!")

Eine Schellnsau, wer Böses dabei denkt. Vielleicht wird man einst auf das Jahr 2013 zurückblicken und sagen: "Damals fing es an." Man könnte es auch anders formulieren: Trotz offenkundiger Bemühungen diesem Müll mit Humor, Zynismus und Wortspielen Herr zu werden, muss ich eingestehen, dass mir "#Willpower" Angst macht.

Von Menschen, die so etwas ernsthaft gut finden, ist es nicht mehr weit bis zu Menschen, die bereit sind, Schlimmeres zu tun. 

"#Willpower" ist niemals erschienen und diese Rezension basiert auf drogeninduzierten Albträumen.