Mittwoch, 30. Oktober 2013

Schnellcheck #1: Wirrer Mist!

Ich "durchleide" derzeit mal wieder eine akute Geschmackserweiterungsstörung. Diese Krankheit äußert sich v.a. dadurch, dass der Patient so viel neue Musik wie nur irgendwie möglich hört. Gerne auch sogenannten "wirren Mist". (Danke an eine Freundin für diesen Begriff.) Zur Linderung der Symptome habe ich mich dazu entschieden, meine Eindrücke mit euch zu teilen.

Entdeckt habe ich die meisten Bands übrigens v.a. via Bandcamp. Diese Rubrik wird ab sofort einmal pro Monat erscheinen. Viel Spaß beim Entdecken!


Random Rab - Release (5/10)
Electro, Downbeat, Synth pop

Sehr entspannende und harmonische Musik. Teilweise sogar richtig orchestral. Wer nach herbsttauglicher Autofahrmusik sucht, könnte hiermit fündig werden. Außerdem finde ich das Cover toll.

Hörtipp: "Absolution"

501 - 2013 Compilation (5/10)
Glitch Hop, Dubstep

Dubstep ist wie Metal. Ein Genre, das sich im eigenen Klischee suhlt. Bisher konnte ich mit dem Gerödel wenig anfangen, woran auch dieser Sampler wenig ändert. Einige Tracks machen aber durchaus Spaß.

Hörtipp: "Vulture"

Ufomammut - Idolum (7/10)
Stoner, Doom, Psychedelic Metal

Es schiebt und knarzt, die Schwarte kracht. Tiefstgestimmte Gitarren verbreiten apokalyptische Partystimmung. Macht kaputt, was noch nicht kaputt ist.

Hörtipp: Das ganze Album!

This Will Destroy You - Live in Reykjavik (6/10)
Postrock, Noise, Ambient

Stereotypischer Postrock mit einer angenehmen Noise-Schlagseite. Besonders der glasklare Klang weiß zu überzeugen. Nicht ganz so kitschig wie God Is An Astronaut (= daher besser). Wunderbar eingesetzte Feedbacks und Obertonspielereien.



Control - Control LP (6/10)
Mathcore, Postcore, Experimental Rock

Trackartige Musik mit echten Instrumenten. Sehr statisch und grooveorientiert, gerne auch in krummen Taktarten. Frickel frickel, zappel, zuck. Sich selbst erhaltende Onomatopoesie.


Lune Palmer - The rooster (5/10)
Indie Rock, Electro Pop

Schweizer Band, die extrem nach Radiohead und Portishead klingt. Und das mit einem männlichen Vokalisten. Nicht gerade eigenständig, aber dennoch recht hübsch. 

Freitag, 25. Oktober 2013

Top 100, 18: David Bowie - Low (1977)

David Bowie ist ein Scharlatan. Er greift Modeerscheinungen auf, kombiniert sie mit unverkennbaren Markenzeichen seines Songwritings und Auftretens, und lässt die Welt im Glauben, er hätte sich wieder einmal neu erfunden.

Das, was Bowie daher so relevant macht, ist sein Gespür für den oftmals die falschen Orte bespukenden Zeitgeist. Sei es der langzottelige Folktroubadour zu Beginn, das wüst geschminkte Alien der frühen Siebziger oder der unterkühlte Dressman der Yuppieära - der Igel Bowie war oft genug vor dem Hasen zur rechten Zeit am richtigen Platz.

Das musikalische Werk des Briten ist ebenso vielseitig wie extremen Qualitätsschwankungen unterlegen. Denn auch wenn er lange Zeit zu den einflussreichsten Popkünstlern überhaupt gehörte, konnte er nicht immer die passende Musik zur jeweils neusten Inkarnation seiner Selbst zu Wege bringen. (Manchmal war auch einfach die Inkarnation Mist, man denke an die grässlichen Alben der späten Achtziger.)

Es steht außer Frage, dass Bowies künstlerisch produktivste und erfolgreichste Zeit die Jahre zwischen 1971 und 1979 waren. Besonders in der zweiten Hälfte der Siebziger befand sich Bowie auf einem musikalischen Höhenflug.

Maßgeblich an dieser kreativen Hochphase beteiligt war der Soundtüftler und Ambientpionier Brian Eno, unter dessen Regie Bowie die sogenannte Berliner Trilogie aufnahm. Zwischen 1977 und 79 lebte Bowie nämlich samt Entourage in der geteilten deutschen Hauptstadt und ließ sich treiben. (u.a. auch mit Iggy Pop und jeder Menge lustiger Substanzen, die einen länger wachhalten können.)

Welch tiefen Eindruck Berlin auf den Künstler gemacht haben muss, zeigt besonders das erste Album der Trilogie: "Low".

Schon die Teilung des Albums in zwei sich stark voneinander unterscheidende Hälften erinnert an die Stadt, in der es aufgenommen wurde. Während der erste Teil des Albums größtenteils aus eher konventionellen (jedoch teils recht schrägen) Songs besteht, setzt sich die B-Seite aus mehreren ineinander übergehenden Instrumentals, welche eindeutig die Handschrift Enos erkennen lassen, zusammen.

Der experimentelle Charakter des Albums zeigt sich bereits im Opener "Speed of life", der einen soliden Funkrhythmus mit kaputten Synthesizern kombiniert. Die danach folgenden Songs sind allesamt kurz und fast schon skizzenhaft, sie beginnen irgendwo in der Mitte und hören ebenso unvermittelt wieder auf.

Das Schlüsselstück der A-Seite ist sicherlich das programmatische "Sound and vision", welches fröhlich daherhüpfend von einer neuen Ära kündet. "Don't you wonder sometimes about sound and vision?", fragt Bowie unbeteiligt, während die Musik mit mindestens einem Bein in die Zukunft hineintanzt. 

Auch wenn die Popsongs sicherlich alles andere als schlecht sind, offenbart sich die wahre Größe des Albums erst in der avantgardistischen zweiten Hälfte. Minimal music und Ambient standen Pate für die wohl gewagtesten Stücke, die Bowie in seiner Karriere aufgenommen haben dürfte.

Besonders über "Warszawa" und das das Album beschließende "Subterraneans" könnte ich Romane schreiben. Nur wenige anderen Kompositionen, die ich kenne, wohnt solch eine tiefe Traurigkeit inne. Totengesänge für im Staub versinkende Industrieruinen. Das Saxophon, das durch die zweite Hälfte von "Subterraneans" geistert, garantiert Gänsehaut. 

"Low" ist kein alltagstaugliches Album. An manchen Tagen entfaltet es jedoch eine unvergleichliche Sogwirkung. 

Mittwoch, 23. Oktober 2013

King of Muzak

Ich bin mit dem Radio aufgewachsen. In der Küche, bei den Hausaufgaben, während dem Spielen - das Radio lief eigentlich immer nebenher. Was mir aus heutiger Perspektive kaum noch nachvollziehbar scheint, war damals vollkommen normal. Vielleicht, weil ich die meiste Zeit ohnehin nicht richtig hingehört habe, vielleicht aber auch, weil früher alles besser war. (außer Tiernahrung)

Bevor ich anfing, mich intensiver mit Musik zu beschäftigen, war sie nicht viel mehr als Alltagsbegleitung und Freizeitberieselung. Und womit berieselt es sich am besten? Natürlich mit Formatradiosendern. (Zudem hätte ich als Zehnjähriger mit dem Radiofeuilleton auf Bayern 2 wohl sowieso wenig anfangen können.)

Aber darum soll es hier und heute nicht gehen. Ich möchte über einen Mann sprechen, der Generationen von Radiohören begleitet hat, und auch heutzutage noch Stammgast in den Playlisten ist. Die Rede ist selbstverständlich vom King of Muzak höchstselbst. Einem sicherlich sehr sympathischen Herren, der völlig zu Unrecht von allen Seiten Hiebe einstecken musste, obwohl er doch die perfekte Bügelmusik komponiert hatte.

Ihr ahnt sicher bereits, wer gemeint ist: Niemand anderer als Philip David Charles Collins.


Es gilt, zunächst eine Sache klarzustellen: Im Gegensatz zu manch anderen musikalischen Kapitalverbrechern ist Phil Collins' Musik ziemlich okay. Bieder vielleicht, nervig wohl auch, aber bei weitem nicht so zornauslösend wie beispielsweise die ganze Armada deutschprachigen Befindlichkeitsgedudels a la Ich & Ich, Rosenstolz oder Silbermond. 

Phil Collins tut niemandem weh. Und genau darin steckt die Perfidie.

Im Nullsummenspiel der glattgebügelten Konsensmucke war Collins lange Zeit so etwas wie der Hüter des heiligen Grals. Seine hier nicht weiter zu diskutierende Vergangenheit als Drummer von Genesis hinter sich lassend, wandte er sich Anfang der Achtziger mehr und mehr der Popmusik zu, bis ihm schließlich "In the air tonight" zum Durchbruch als Solokünstler verhelfen sollte.

"In the air tonight" ist ein auf mehreren Ebenen sehr gelungenes Stück. Die zurückhaltend wabernden Synthies erzeugen im Wechselspiel mit Text und Gesang eine gewisse Spannung, die sich schlussendlich in einem äußerst markanten Schlagzeugeinstieg entlädt. Collins' Stimme umweht ein kurzer, leicht klirrender Halleffekt, wodurch sie in der Leere zu schweben scheint. Der Song ist ein Paradebeispiel für Collins' zweifellos vorhandenes musikalisches Talent; er ist einprägsam, perfekt produziert und in Klangbild und Melodieführung einzigartig.

Auf dem Phil herumzuhacken war lange Zeit so etwas wie ein Volkssport unter Musikbeschreibern und selbsternannten Geschmacksträgern. Gewiss gibt es zahlreiche gute Grunde, weswegen Phil Collins' Oeuvre im Vorzimmer zum Fegefeuer anzusiedeln ist, aber ganz so einfach darf man es sich nicht machen.

Collins hatte nämlich das verstanden, was ich im Folgenden "die Formel" nennen werde.

Seitdem die Musikindustrie existiert, beißen sich Komponisten, Manager und Zahlenverdreher an der Formel die Zähne aus. Das fiese an der Formel ist, dass sie permanenten Permutationen unterliegt. Was sich gestern noch millionenfach verkauft hatte, verstaubt heute unangeklickt auf iTunes. Allein die Zahl der bis dato unter den Tisch gefallenen One-hit-wonder spricht Bände. Nicht das Was, sondern das Wie entscheidet.

Bei vielen sogenannten Superstars kann man ziemlich schnell nachvollziehen, weswegen sie einfach nicht kaputtzukriegen sind. Manche erfinden sich fortwährend neu (bzw. werden von ihrem Management neu erfunden), andere verzichten im Laufe ihrer Karriere sukzessive auf Kleidungsstücke, um vom Mangel an künstlerischer Innovation abzulenken. Wieder andere heißen Lemmy Kilmister.

Phil Collins hat seine Klamotten anbehalten. Und großartig innovativ oder trinkfreudig war der Mann mit dem schütteren Haar nie gewesen. Er konnte ja nicht einmal tanzen. 

Das Geheimnis seiner Popularität ist gerade in dieser Abwesenheit von distinktiven Merkmalen zu suchen. Oft spricht man ja von "Projektionsflächen", wenn man "langweilig" meint. Collins ist ein Langweiler, und zwar ein meisterhafter.

Selbst wenn ein Collins-Song mal richtig flott daherkommt, klingt er nicht wirklich mitreißend. Man denke an "Jesus he knows me", "Sussudio" oder "Can't hurry love". Der Stock sitzt zu tief und fest, als dass man ihn zum Tanzen aus dem Arsch nehmen könnte.

Womit wir beim Kern der Sache angelangt wären: Phil Collins ist genauso wie seine Hörer, er ist genauso wie die meisten Menschen - auch wenn diese nicht müde werden, abweichender Meinung zu sein. Wenn Collins von Liebe und anderen Gefühlsvorstellungen singt, geht er stets den Weg des geringsten Widerstandes. Während jedoch z.B. im Schlager derlei Botschaften auf plumpe Weise mit dorfdiscotauglichen Konnotationen unterfüttert werden, wahrt Collins immer ein gewisses Maß an Würde und Distanz - sowohl zu seinem Publikum als auch zu seiner eigenen Person. 

Der Mensch Phil Collins tritt hinter die Songs zurück, was ihm ganz ungeachtet der Frage nach der Qualität seiner Stücke als Verdienst angerechnet werden muss. Ob er nun Tarzan besingt, oder Toleranz und Mitgefühl predigt, ist egal, ja selbst, wenn er alles ernst meinen sollte, macht das keinen großen Unterschied.

Nun sind dies keine taufrischen Erkenntnisse. Der Hahn, der einst nach Phil Collins gekräht hatte, hat längst den Heuhaufen gewechselt. "Lebbe geht weiter" würde ein längst vergessener Bundesligatrainer sagen. 

Für mich ist Philip Collins eine Kindheitserinnerung. Das war der Typ, der immer zwischen den Boggnsacks und den Feuchtgrubers auf Antenne Bayern lief. Der Mann, dessen Alben nur in Plattensammlungen auftauchen, wenn diese auch CDs von Tina Turner, Bon Jovi und Foreigner enthalten. Ein Musiker, der als Geschmacksgrenze fungiert.

Montag, 21. Oktober 2013

Top 100, 19: The Smashing Pumpkins - Adore (1998)


Achtung, Provokation! Ich finde "Adore" besser als "Siamese Dream" und "Mellon Collie". Auch wenn ich mit meiner Meinung wahrscheinlich einigen Verfechtern der "wahren" Pumpkins auf den Schlips treten dürfte, stehe ich zu meiner Liebe zu dem sicherlich kontroversesten aller Smashing Pumpkins-Alben. 

Viel wurde damals gezetert, als "Adore" herauskam. Über blöde Electrobeats, über fehlende Rockbretter, über eine Band, die offensichtlich ihre besten Tage hinter sich gelassen hatte. Nach dem Rauswurf des Drummers Jimmy Chamberlin hatte Billy, der nun glatzköpfige Vampirkönig, das Ruder radikal herumgerissen und mehr oder minder eigenmächtig den neuen Kurs seiner Band bestimmt - die verbliebenen Bandmitglieder James Iha und D'Arcy Wretzky hatten sicherlich nicht besonders viel Mitspracherecht, als es um die künstlerische Neuausrichtung nach der Schrumpfung zum Trio ging. 

Da wir hier nicht bei der britischen Musikpresse sind, werden derlei Nebensächlichkeiten im weiteren Verlauf allerdings keine Rolle spielen.

"Adore" ist gewiss das poppigste Pumpkins-Album, vorbei waren die Zeiten von wüsten Equipmentvernichtungsübungen wie "x.y.u". Und obwohl viele Songs mit elektronischen Elementen angereichert wurden, bleibt ihr akustischer Kern stets deutlich hörbar erhalten. Wer sich also von den teils recht offensiv eingesetzten Synthies nicht sofort abschrecken lässt, wird reichhaltig belohnt.

Zwischen opulent ausstaffiertem Widescreen-Pop finden sich immer wieder vom Klavier dominierte Songs, schlicht und schön. So ist beispielsweise "Behold! The nightmare" ein faszinierendes Zwitterwesen aus beatlesken Harmonien und phasergetränkter Klangmalerei.

Und dann sind da diese Momente, die aus gewöhnlichen Songs Preziosen machen: Die aufsteigende Gitarrenfigur in der Mitte von "Ava Adore", die bombastischen Gitarrenwände im Refrain von "Daphne descends", das Solo, das "For Martha" in andere Sphären katapultiert. 

Das Album endet mit "Blank page", einer Klavierballade, die perfekt die gesamte Stimmung des Longplayers einfängt. Nicht mehr das pubertäre Dahinleiden steht im Vordergrund, sondern eine distanzierte Melancholie, die umso eindringlicher wirkt. 

Nach "Adore" folgte der langsame, aber unaufhaltsame Abstieg Corgans, sowohl in künstlerischer als auch in kommerzieller Hinsicht. Egal ob solo oder mit Bandunterstützung: Billy bekam nichts mehr auf die Reihe, und sollte sich einige Male sogar bis zu den Hüften in musikalische Fettbehälter begeben. (Eines Tages werde ich noch über "Zwan" herfallen müssen, aber darüber sprechen wir ein andermal.)

Top 100, 20: Johnny Cash - At Folsom Prison (1968)


Schon lange Zeit bevor sich Johnny Cash mit den von Rick Rubin in die Wege geleiteten "American Recordings" ein endgültiges Denkmal setzte, galt der Mann als Volksheld in God's own country. Streitbar ob seiner diversen kaum im Zaum gehaltenen Obsessionen, und dennoch so aufrecht und authentisch, dass ihm schon in jüngeren Jahren allerhand Legenden angedichtet wurden. Cash musste sich nicht durch aufwändiges Gehabe mit seinem Publikum gemein machen, alles was er benötigte, waren seine Stimme, seine Songs und ein paar simple, ritualisierte Gesten und Ansagen. 

In Zeiten, in denen die Rockmusik explodierte und beinahe wöchentlich revolutionäre Platten veröffentlicht wurden, war Country allerdings nicht gerade der heißeste Scheiß. Dennoch hatte Cash schon damals eine Sonderrolle inne, sowohl im Country-Genre als auch als "Überlebender" der Fifties. Während andernorts z.B. Elvis Presley sich als Zirkusclown neu erfand, blieb Johnny Cash sich und seiner Musik treu. Akustikgitarre, Bass, Schlagzeug, Mundharmonika - kein Schnickschnack, keine überflüssigen Spielereien. 

Das, was Cashs Herangehensweise an Country-Musik so einzigartig macht, ist seine Bereitschaft zur totalen Reduktion. Einer Dampflok gleich rollt der Wechselbass, belgeitet vom monotonen Rattern der "rhythm section". Gerade auf dem Folsom Prison-Livealbum erlebt man diesen Purismus in beinahe jedem Song.

Doch der Reihe nach: Der Gefängnisauftritt sollte Cashs ins Stocken geratene Karriere neu ankurbeln - nicht zuletzt aufgrund seiner Affinität zu diversen Arzneimitteln hatte sich John R. Cash in der Öffentlichkeit rar gemacht und auch seine in konstantem Abstand veröffentlichten Alben wollten sich nicht mehr so recht verkaufen. Der Gig im Knast war also auch als PR-Maßnahme gedacht.

Trotzdem hätte das Unterfangen furchtbar schiefgehen können: Vor Häftlingen zu spielen war mit einigen Risiken verbunden. So hätten diese beispielsweise den reichen Countrystar schlicht ablehnen und auspfeifen können, so hätte andererseits auch die Gefängnisleitung das Konzert jederzeit unterbrechen können. Doch nichts von alledem geschah, worüber man als Hörer heilfroh sein muss.

Bereits der Jubel, der dem Barden nach den zum Markenzeichen gewordenen Einleitungsworten "Hello, I'm Johnny Cash" entgegenschlägt, ist frenetisch. Das Publikum hat auf Cash gewartet, und sie feiern jeden Takt des eröffnenden "Folsom Prison Blues". Die "Tennessee Three" spielen wie eine gut geölte Maschine, während Cashs Stimme sonor und volltönend über den Songs thront.

Die Songauswahl ist perfekt auf den Auftrittsort zugeschnitten: Lieder über das Gefängnis, Lieder über Mord und Tod, Lieder über Einsamkeit, Sehnsucht und Verzweiflung. Cash spielt lässig-provokant mit seinem Publikum und der sicherlich besorgten Gefängnisleitung, indem er z.B. süffisant über das nicht genießbare Wasser, das im Gefängnis ausgeschenkt wird, herzieht. Sein Publikum findet das selbstverständlich großartig.

Cash steigert sich von Song zu Song, spätestens bei "25 minutes to go" hat er den Laden komplett im Griff. Besser hat seitdem niemand von seiner eigenen Hinrichtung gesungen. 

In der zweiten Konzerthälfte erklingen auch einige Balladen, die die Setlist um einige melancholisch-düstere Momente ergänzen. Und selbst Cashs damals noch Nicht-Ehefrau June Carter kommt für zwei Songs auf die Bühne, wobei besonders die entfesselte Version von "Jackson" noch heute ein Grinsen aufs Gesicht zu zaubern vermag. 

"At Folsom Prison" ist das definitive Johnny Cash-Album. Es zeigt einen ebenso vielseitigen wie souveränen Geschichtenerzähler, der mühelos eine ganze Halle zum Brodeln bringt.

Keep the train rollin'.

PS: Es wurden übrigens zwei Auftritte für das Album aufgenommen, wobei nur "I got stripes" und "Give my love to Rose" dem zweiten Auftritt entstammen.

Freitag, 18. Oktober 2013

Der Anhörer wird hörbar!

Nun also die mysteriöse Ankündigung, die ich neulich angekündigt habe:


Am 1.11. wird die erste Folge des Anhörer-Podcasts erscheinen. Was euch erwarten wird? Ungefähr eine Stunde Gequatsche über Musik, Songwriting und andere lebenserhaltende Maßnahmen. 

Derzeit ist geplant, einmal monatlich eine neue Episode zu produzieren. 

Pearl Jam - Lightning bolt (2013)

5/10
 
Ach, die gibts also auch noch? Ruhig war es geworden um die fünf mittlerweile sichtlich gealterten Herren aus dem Westen der USA. Und man muss ehrlich sein: "Backspacer" und auch "Pearl Jam" waren keine Alben, die Musikgeschichte schrieben. Solide, melodische Rockmusik mit sporadischen Glanzlichtern und einigen schamauslösenden Fehltritten.

Pearl Jam waren schon immer eine recht konventionell agierende Band. Einzig während der kauzigen Phase Mitte bis Ende der Neunziger wagte das Quintett ein paar Experimente, ohne dabei jedoch die sicheren Fahrwasser riffbasierter Vierviertelstampfer zu verlassen. Das Alleinstellungsmerkmal waren die Refrains, die großen Melodien, die Eddie Vedder jenerzeit in hoher Stückzahl produzieren konnte.

Nun also "Lightning bolt", Album Nummer zehn. Große Sprünge erwartet niemand mehr, denn Pearl Jam befinden sich auf dem Springsteen-Highway. Alle paar Jahre ein Album, danach eine Tour, auf der selbstvergessen der Nostalgie gefrönt wird. Alle singen mit und Vedder trinkt Unmengen Rotwein dabei. 

"Lightning bolt" ist daher genauso wie seine Vorgänger. Souverän, stellenweise elegant arrangiert, aber eben auch ein wenig langweilig. Man hat das alles schon mal so oder so ähnlich gehört. Die singenden Gitarren in "Sirens", den lässig groovenden Kopfnickerrock von "Infailible", die gleichmäßig auf dem Album verteilten Uptempo-Songs, die hin und wieder schräge Breaks beinhalten.

Das Lied, das das Album vor der Belanglosigkeit rettet, ist wohl "Pendulum". Beginnend mit einem schönen Delay-Klavier entfaltet sich ein sehr atmosphärischer und nachtwanderungstauglicher Song. (Wüstenschellenkranz inklusive.) 

Richtige Ecken und Kanten sucht man jedoch leider vergebens. Die Produktion ist viel zu sauber, viel zu poliert geraten, um die sich breitmachende Lethargie zu vertreiben. Ein Gitarrensolo hier, ein "Yeah yeah yeah" da - sonderlich spannend oder gar mitreißend ist das leider nicht mehr.

Gegen Ende gibts dann sogar noch ein wenig Schunkelmaterial ("Sleeping by myself") und schließlich eine weitere feuerzeugtaugliche Ballade ("Future days"), die nicht davor zurückschreckt, den Himmel mit Geigen zu verunstalten.

Das Fazit zum Album kann dem Opener entnommen werden: "It's okay." Mehr aber auch wirklich nicht.

Mittwoch, 2. Oktober 2013

Top 100, 21: Tool - Lateralus

21 Tool - Lateralus (2001)
Wenn Musik mit Adjektiven wie "progressiv" versehen wird, sollte man vorsichtig werden. Nicht selten bedeutet Progressivität lediglich, dass allzu gewöhnliche Songstrukturen aufgebläht und mit mehr oder minder arbiträren Elementen (Tonartwechsel! 7/13-Takt! Amorphes Gemüse!) zu einem schwer genießbaren Brei vermengt werden. Nicht kompensierte Zurückweisung im Kindesalter mag eine Ursache für die Existenz jener Berufsonanisten sein, vielleicht ist es aber auch einfach nur die Taubheit jener Menschen, die Musik als Sport verstehen.

Es gibt jedoch Ausnahmen. Künstler, denen es gelingt, tatsächlich neue Ansätze zu vertonen. Bands, die sich einen Dreck um sechsminütige Gitarrensoli scheren und stattdessen die vergehende Zeit lieber mit Substanz füllen. Bands wie Tool. Vier Männer aus dem Westen der USA, die seit Mitte der Neunziger einem ganzen Genre ihren Stempel aufgedrückt haben.

Waren die früheren Werke von Tool noch eher straighte Angelegenheiten, zeigte sich schon auf dem 1996er-Meisterwerk "Aenima" (über das noch zu reden sein wird), dass "Metal" ein viel zu kurz greifender Begriff ist, um die Musik adäquat zu beschreiben. Die Band überschritt Grenzen.

Die Erwartungen an "Lateralus", das 2001 veröffentlicht wurde, waren daher extrem hoch. Und sie wurden erfüllt, wenngleich anfangs das Erstaunen überwog. Zu bombastisch, zu vertrackt waren die Songs - die ungezügelte Aggressivität von "Aenima" flammte nur vereinzelt auf. Beinahe jedes Lied auf "Lateralus" ist ein für sich stehendes Epos mit einer ganz eigenen Atmosphäre.

Das das Album eröffnende "The grudge" ist daher alles mögliche, nur keine halbe Sache. Acht Minuten und sechsundreißig Sekunden dauert der Song, und in dieser Zeitspanne errichtet die Band ein bombastisches Soundgebirge, nur um es in den letzten Sekunden des Tracks mittels boxensprengendem Klanggewitter zum Einsturz zu bringen.

Dabei sind die Grundzutaten eines Tool-Songs relativ profan: Simple Gitarrenriffs, synkopierte Drumgrooves und ein Bass, der sich nicht zu schade ist, sich als Melodieinstrument zu verdingen. Erst die Summe der einzelnen Teile offenbart die wahre Größe der Musik: Die Art und Weise wie sich einzelne Motive überlagern mag beim ersten Hören verwirrend wirken, je öfter man sich jedoch dem Album aussetzt, desto mehr greifen die Zahnräder ineinander.

Ein Paradebeispiel hierfür ist das Lied "The patient", welches relativ gemächlich beginnt und erst gegen Ende aus der Haut fährt. Die komplexe Rhythmik des Songs ringt mit der nicht minder ausufernden Gesangsmelodie Maynard James Keenans, der auf "Lateralus" wohl auf der Höhe seines Könnens angelangt war. Egal ob leichtes, leises Säuseln oder infernalisches Geschrei - Keenan kann alles, und wirkt nicht angestrengt dabei.

Mit "Schism" und "Parabola" befinden sich auch zwei zugänglichere Nummern auf "Lateralus", gerade letzteres ist dank seines eingängigen Riffs und des ausnahmsweise sich an standardisierte Schemata haltenden Arrangements fast schon Pop.

Mein ganz persönlicher Favorit des Albums ist jedoch der Titelsong. Über neun Minuten dauert "Lateralis", und jede einzelne verdammte Sekunde ist fantastisch. Besonders der zweite Teil des Stücks ist schlicht atemberaubend. Ausgehend von vier primitiven Basstönen werden wellenförmig neue Elemente zur Musik addiert, bis schließlich alle Dämme brechen. Die Tatsache, dass der verschachtelte Groove des Schlussparts einer Fibonacci-Folge ähnelt, soll indes nicht unerwähnt bleiben. Ein wenig spinnert sind sie dann doch, diese Werkzeugmänner.

Womit wir bei Danny Carey wären. Was der Mann auf "Lateralus" veranstaltet, treibt jedem trommelaffinen Menschen die Freudentränen in die Augen. Verzahnte polyrhythmische Figuren? Check. Mühelos aus dem Ärmel geschüttelte Taktwechsel? Check. Höllisch präzise Hochgeschwindigkeitsfills? Check. Und trotz aller Technik und Virtuosität bleibt Careys Spiel stets musikalisch, das gefühllose Gepose anderer Schlagzeuger im Progressive Metal-Genre sucht man vergebens. Carey hat acht Arme, vier Beine und zwei Gehirne, und er weiß diesen biologischen Vorteil äußerst beeindruckend zu nutzen.

Leider fällt das letzte Drittel des Albums ein wenig ab, vor allem "Triad" ist ein paar Minuten zu lang geraten - was jedoch nichts daran ändert, dass "Lateralus" ein Meilenstein der Rockmusik ist.

Top 100, 22: Patti Smith - Horses

22 Patti Smith - Horses (1975)
Ebenso unnahbar wie verletzlich wirkt die Dame, die uns auf dem Cover entgegenblickt. Die Insignien männlichen Pfauentums (offene Krawatte, ein über die Schulter geworfenes Jackett) wirken sorgsam deplatziert an ihr. Sie begrüßt uns mit Worten, die sich ins Gedächtnis brennen: "Jesus died for somebody's sins - but not mine."

Was folgt, sind sechs furiose Minuten, in denen die Sängerin sich in einen Rausch kiekst und souverän scheppernde Band sich ins Delirium schrammelt. "Gloooria" jauchzt der Backgroundchor, die Glocke schlägt, die Hütte brennt. Es gibt wenige Debütalben, die mit solch einer Wucht daherkommen. Patti Smith ruft: "Hier bin ich nun", und meint: "Ich bleibe".  

Und Smiths Erstling "Horses" schlug ein wie die oft herbeizitierte Bombe. Hier war jemand, der Rockmusik anders interpretierte. Gerade die Art und Weise, wie Smith die eigene Weiblichkeit zu positionieren wusste, war visionär.

Zentrale Stücke des Albums sind die jeweilis neunminütigen "Birdland" und "Land". Besonders ersteres zählt zu den intensivsten Stücken, die die Popmusik der letzten Jahrzehnte hervorgebracht hat. Zu anfangs sehr zurückhaltender Klavierbegleitung rezitiert Smith einen Text, der zu Beginn die Geschichte eines tragischen Todes erzählt. Der sich langsam Bahn brechende Wahnsinn, der schließlich unkontrolliert vom Protagonisten des Liedes Besitz ergreift, spiegelt sich in der aufbrausenden Musik wider. Smiths Worte schweben über den tosenden Klangwellen, immer wirrer werden die Bilder, immer endgültiger die Verzweiflung. Rausch und Irrsinn, bis schließlich die Musik implodiert und man zitternd die Augen öffnet. Ein indianisches Beschwörungsritual ist Kindergarten dagegen.

Kaum greifbar ist die Lyrik Patti Smiths, sie ist reich an Bildern und farbigen Andeutungen. Die Brücke, die Wahrnehmung und Interpretation verbindet, ist schmal. Einem Strudel gleich ziehen die Worte einen beim Hören immer tiefer in ihren Bann. Smith braucht keine perfekt ausgebildete Gesangsstimme, ihr stets leicht schräger Singsang passt perfekt zur sich aufs Wesentliche beschränkenden Begleitkapelle.

"Horses" ist Punk. Der wirkungsmächtige Geburtsschrei einer Künstlerin, die Zeit ihres Lebens nur äußerst selten Kompromisse eingehen sollte.

Top 100, 23: Nine Inch Nails - The Downward Spiral

23 Nine Inch Nails - The downward spiral (1994)
Kaputte Sachen wirft man meistens achtlos in den Abfall. Man ärgert sich vielleicht kurz darüber, dass man wieder einen Gegenstand weniger sein Eigen nennen kann, aber meist findet man sich relativ schnell mit der Kaputtheit des Objekts ab und widmet sich anderen Beschäftigungen.

Doch was macht man, wenn es sich bei dem kaputten Gegenstand um das eigene Selbst handelt? Wenn Suizid keine Option darstellt? Wenn die Ursachen für das eigene Befinden außerhalb beeinflussbarer Zusammenhänge zu suchen ist? Sich mit der eigenen Kaputtheit abzufinden ist ein schwieriges Unterfangen. Gefangen zwischen Manie und Depression wird man umhergeschleudert, und in den wenigen lichten Momenten wird klar, dass es keinen Weg nach draußen, sondern nur nach unten geben kann. Hoffnung auf Klarheit, auf Erkenntnis besteht dennoch. Katharsis bedeutet allerdings Selbstzerstörung, sofern man alten Männern Gehör schenkt.

Wobei die Wut, die sich gegen das Ich richtet, zunächst hinausgeschrien werden muss, da eine geringe Chance, gehört zu werden, besteht. Doch das Geschrei verhallt ungehört, und weicht der Erkenntnis, dass man im Begriff ist, Brücken abzubrechen und Rückwege zu verbarrikadieren. "Nothing can't stop me now, 'cause I don't care anymore."

Hedonismus also. Richtig auf den Putz hauen, den ganzen Dreck fressen und dabei so viel vögeln wie möglich. Weil, warum nicht? Die Reduktion aufs Wesentliche soll und muss genügen. Bevor in einsamen Stunden der Selbsthass zurückkehren wird, gilt es, Zeit und Angst möglichst effizient zu vertreiben. Zur Not auch ohne Drogen.

Die Geschichte von der inneren Stimme macht die Runde. Als ob diese zu bestimmen hätte, wohin die Reise gehe. Als ob irgendetwas relevant wäre. "I didn't hurt me / nothing can hurt me / you didn't hurt me / nothing can stop me now." Doch das Unvermeidliche wird passieren, auch wenn zwischen Erkennen und Begreifen ein kilometerbreiter Abgrund klafft. Dass trotz aller Bemühungen, der Zersetzung Produktivität abzuringen, das Leben zum Scheitern verurteilt ist. Von Wollen war nie die Rede.

"Don't you tell me how I feel." Es geht weiter, immer weiter. Bis schließlich Stille herrscht, so wie im Auge eines Wirbelsturms. Am Horizont türmen sich die Wolken, düster und endgültig, doch hier und jetzt herrscht Frieden. Ruhe. Gleichmut. Den Gewalten ausgesetzt erkennt man, dass man immer noch da ist, trotz aller Versuche, dieser Tatsache entgegenzuwirken.

Doch das, was übriggeblieben ist, ist nicht mehr als kümmerlicher Rest dessen, was ursprünglich Projektionsfläche für Träume gewesen war. Eigentlich ist alles ganz einfach hier unten.

"What have I become, my sweetest friend? Everyone I know goes away in the end. You could have it all - my empire of dirt. I will let you down, I will make you hurt." Was folgt, ist ein Ende. Suizid mag doch eine Option sein.

Top 100, 24: Leonard Cohen - Songs of Leonard Cohen

24 Leonard Cohen - Songs of Leonard Cohen (1967)
"And you want to travel with her, and you want to travel blind / and you know she will trust you, for you've touched her perfect body with your mind." Zeilen, die einem den Boden unter den Füßen wegreißen. Zeilen, die begreiflich machen, wozu Sprache fähig sein kann. Geraunt von einem etwas bieder aussehenden Mann, stets vorzüglich gewandet. Ein Künstler, ein Dichter ist er, dieser Leonard Cohen. Ein talentierter Sänger weniger, wobei das, was er Ende der Sechziger stimmlich zu fabrizieren in der Lage war, im Vergleich zu seinem heutigen Geröchel beinahe wie Operngesang wirkt.

Aber darum geht es auch nicht. Die Stimme passt perfekt zur Musik. Rastlose Zupfmuster, spukige Streicher, schräge Bläserakzente, dazu der monoton-rezitative Singsang Cohens. Mit minimalen Mitteln erzeugt er eine ungemein intime Atmosphäre. Im Zentrum stehen die Texte, die Geschichten, die er erzählt. Strophen, die man in Gänze wiedergeben muss, um ihre Schönheit zu begreifen:

"When I left they were sleeping,
I hope you run into them soon.
Don't turn on the light
You can read their address by the moon;
And you won't make me jealous
If I hear that they sweeten your night
We weren't lovers like that
And besides it would still be all right." (aus "Sisters of mercy")

Die Bilder, die Cohen heraufbeschwört, entstehen aus den Zwischentönen, den Wechselwirkungen angedeuteter Gefühlslagen. Und obwohl die Sprache stets vage bleibt, erzeugt jedes Lied eine ganz bestimmte Emotion. So ist beispielsweise "So long, Marianne" ein Song, der selbst Ertrinkenden ein Lächeln aufs Gesicht zaubern dürfte. Und "Teachers" ist in bestem Sinne verzweifelt.