Wenn
 Musik mit Adjektiven wie "progressiv" versehen wird, sollte man 
vorsichtig werden. Nicht selten bedeutet Progressivität lediglich, dass 
allzu gewöhnliche Songstrukturen aufgebläht und mit mehr oder minder 
arbiträren Elementen (Tonartwechsel! 7/13-Takt! Amorphes Gemüse!) zu 
einem schwer genießbaren Brei vermengt werden. Nicht kompensierte 
Zurückweisung im Kindesalter mag eine Ursache für die Existenz jener 
Berufsonanisten sein, vielleicht ist es aber auch einfach nur die 
Taubheit jener Menschen, die Musik als Sport verstehen.
Es
 gibt jedoch Ausnahmen. Künstler, denen es gelingt, tatsächlich neue 
Ansätze zu vertonen. Bands, die sich einen Dreck um sechsminütige 
Gitarrensoli scheren und stattdessen die vergehende Zeit lieber mit 
Substanz füllen. Bands wie Tool. Vier Männer aus dem Westen der USA, die
 seit Mitte der Neunziger einem ganzen Genre ihren Stempel aufgedrückt 
haben.
Waren die früheren Werke von Tool noch eher 
straighte Angelegenheiten, zeigte sich schon auf dem 1996er-Meisterwerk 
"Aenima" (über das noch zu reden sein wird), dass "Metal" ein viel zu 
kurz greifender Begriff ist, um die Musik adäquat zu beschreiben. Die 
Band überschritt Grenzen.
Die Erwartungen an 
"Lateralus", das 2001 veröffentlicht wurde, waren daher extrem hoch. Und
 sie wurden erfüllt, wenngleich anfangs das Erstaunen überwog. Zu 
bombastisch, zu vertrackt waren die Songs - die ungezügelte 
Aggressivität von "Aenima" flammte nur vereinzelt auf. Beinahe jedes 
Lied auf "Lateralus" ist ein für sich stehendes Epos mit einer ganz 
eigenen Atmosphäre.
Das das Album eröffnende "The 
grudge" ist daher alles mögliche, nur keine halbe Sache. Acht Minuten 
und sechsundreißig Sekunden dauert der Song, und in dieser Zeitspanne 
errichtet die Band ein bombastisches Soundgebirge, nur um es in den 
letzten Sekunden des Tracks mittels boxensprengendem Klanggewitter zum 
Einsturz zu bringen.
Dabei sind die Grundzutaten eines 
Tool-Songs relativ profan: Simple Gitarrenriffs, synkopierte Drumgrooves
 und ein Bass, der sich nicht zu schade ist, sich als Melodieinstrument 
zu verdingen. Erst die Summe der einzelnen Teile offenbart die wahre 
Größe der Musik: Die Art und Weise wie sich einzelne Motive überlagern 
mag beim ersten Hören verwirrend wirken, je öfter man sich jedoch dem 
Album aussetzt, desto mehr greifen die Zahnräder ineinander.
Ein
 Paradebeispiel hierfür ist das Lied "The patient", welches relativ 
gemächlich beginnt und erst gegen Ende aus der Haut fährt. Die komplexe 
Rhythmik des Songs ringt mit der nicht minder ausufernden Gesangsmelodie
 Maynard James Keenans, der auf "Lateralus" wohl auf der Höhe seines 
Könnens angelangt war. Egal ob leichtes, leises Säuseln oder 
infernalisches Geschrei - Keenan kann alles, und wirkt nicht angestrengt
 dabei.
Mit "Schism" und "Parabola" befinden sich auch 
zwei zugänglichere Nummern auf "Lateralus", gerade letzteres ist dank 
seines eingängigen Riffs und des ausnahmsweise sich an standardisierte 
Schemata haltenden Arrangements fast schon Pop.
Mein 
ganz persönlicher Favorit des Albums ist jedoch der Titelsong. Über neun
 Minuten dauert "Lateralis", und jede einzelne verdammte Sekunde ist 
fantastisch. Besonders der zweite Teil des Stücks ist schlicht 
atemberaubend. Ausgehend von vier primitiven Basstönen werden 
wellenförmig neue Elemente zur Musik addiert, bis schließlich alle Dämme
 brechen. Die Tatsache, dass der verschachtelte Groove des Schlussparts 
einer Fibonacci-Folge ähnelt, soll indes nicht unerwähnt bleiben. Ein 
wenig spinnert sind sie dann doch, diese Werkzeugmänner.
Womit
 wir bei Danny Carey wären. Was der Mann auf "Lateralus" veranstaltet, 
treibt jedem trommelaffinen Menschen die Freudentränen in die Augen. 
Verzahnte polyrhythmische Figuren? Check. Mühelos aus dem Ärmel 
geschüttelte Taktwechsel? Check. Höllisch präzise 
Hochgeschwindigkeitsfills? Check. Und trotz aller Technik und 
Virtuosität bleibt Careys Spiel stets musikalisch, das gefühllose Gepose
 anderer Schlagzeuger im Progressive Metal-Genre sucht man vergebens. 
Carey hat acht Arme, vier Beine und zwei Gehirne, und er weiß diesen 
biologischen Vorteil äußerst beeindruckend zu nutzen.
Leider
 fällt das letzte Drittel des Albums ein wenig ab, vor allem "Triad" ist
 ein paar Minuten zu lang geraten - was jedoch nichts daran ändert, dass
 "Lateralus" ein Meilenstein der Rockmusik ist. 

 
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