Mittwoch, 2. Oktober 2013

Top 100, 22: Patti Smith - Horses

22 Patti Smith - Horses (1975)
Ebenso unnahbar wie verletzlich wirkt die Dame, die uns auf dem Cover entgegenblickt. Die Insignien männlichen Pfauentums (offene Krawatte, ein über die Schulter geworfenes Jackett) wirken sorgsam deplatziert an ihr. Sie begrüßt uns mit Worten, die sich ins Gedächtnis brennen: "Jesus died for somebody's sins - but not mine."

Was folgt, sind sechs furiose Minuten, in denen die Sängerin sich in einen Rausch kiekst und souverän scheppernde Band sich ins Delirium schrammelt. "Gloooria" jauchzt der Backgroundchor, die Glocke schlägt, die Hütte brennt. Es gibt wenige Debütalben, die mit solch einer Wucht daherkommen. Patti Smith ruft: "Hier bin ich nun", und meint: "Ich bleibe".  

Und Smiths Erstling "Horses" schlug ein wie die oft herbeizitierte Bombe. Hier war jemand, der Rockmusik anders interpretierte. Gerade die Art und Weise, wie Smith die eigene Weiblichkeit zu positionieren wusste, war visionär.

Zentrale Stücke des Albums sind die jeweilis neunminütigen "Birdland" und "Land". Besonders ersteres zählt zu den intensivsten Stücken, die die Popmusik der letzten Jahrzehnte hervorgebracht hat. Zu anfangs sehr zurückhaltender Klavierbegleitung rezitiert Smith einen Text, der zu Beginn die Geschichte eines tragischen Todes erzählt. Der sich langsam Bahn brechende Wahnsinn, der schließlich unkontrolliert vom Protagonisten des Liedes Besitz ergreift, spiegelt sich in der aufbrausenden Musik wider. Smiths Worte schweben über den tosenden Klangwellen, immer wirrer werden die Bilder, immer endgültiger die Verzweiflung. Rausch und Irrsinn, bis schließlich die Musik implodiert und man zitternd die Augen öffnet. Ein indianisches Beschwörungsritual ist Kindergarten dagegen.

Kaum greifbar ist die Lyrik Patti Smiths, sie ist reich an Bildern und farbigen Andeutungen. Die Brücke, die Wahrnehmung und Interpretation verbindet, ist schmal. Einem Strudel gleich ziehen die Worte einen beim Hören immer tiefer in ihren Bann. Smith braucht keine perfekt ausgebildete Gesangsstimme, ihr stets leicht schräger Singsang passt perfekt zur sich aufs Wesentliche beschränkenden Begleitkapelle.

"Horses" ist Punk. Der wirkungsmächtige Geburtsschrei einer Künstlerin, die Zeit ihres Lebens nur äußerst selten Kompromisse eingehen sollte.

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